BERLIN. Die Front der Kultusminister in Deutschland gegen die Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften bröckelt. Nachdem mit Bremen das erste Bundesland einen Pilotversuch angekündigt (und dabei den grundsätzlichen Anspruch anerkannt) hat, scheint nun auch Berlin dazu bereit zu sein – nachdem eine Studie, die eine systematische Überlastung im Schuldienst belegt, den Druck auf die Bildungssenatorin erhöht hat. Auch andernorts kommt Bewegung in die Angelegenheit.
Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) gibt sich offen gegenüber der Idee, die Arbeitszeit von Lehrer*innen zu erfassen. Dies bestätigte der Sprecher der Bildungsverwaltung auf Nachfrage der taz. Er sagte auch, dass die Senatorin dazu bereits in einen ersten Meinungsaustausch mit der GEW getreten sei. Die Gewerkschaft zeigte sich laut Bericht erfreut über Günther-Wünschs Gesprächsbereitschaft. Allerdings hätten sie davon aus der Presse erfahren – sie seien nun gespannt, wann die Senatorin auf sie zukomme.
Die GEW schlägt ein Pilotprojekt vor, um zusammen mit den Personalräten an den Schulen auszuloten, welches digitale Werkzeug und welches System geeignet sein könnten, die Arbeitszeit zu erfassen. „Bis zum neuen Schuljahr ist es zu knapp, aber zum nächsten Halbjahr im Februar 2026 könnte es klappen“, sagte eine Sprecherin. „Wir sind bereit.“
„Die Überlastung ist keine Ausnahme, sondern Alltag – mit Elterngesprächen am Abend, Korrekturen in der Nacht und Unterrichtsvorbereitungen am Wochenende“
Hintergrund: Laut einer neuen Studie, die Wissenschaftler*innen der Georg-August-Universität Göttingen mit Unterstützung der GEW erstellt und vor zehn Tagen veröffentlicht haben, arbeiten Berliner Lehrkräfte im empirischen Mittel rund 100 Stunden mehr pro Jahr als die für Berliner Beamt*innen und Angestellte mit einer 40-Stunden-Woche vorgesehenen 1.772 Stunden. Die laut Gewerkschaft erstmals für Berlin wissenschaftlich erhobenen Daten basieren auf einer umfassenden Erhebung der tatsächlichen Arbeitszeit über ein gesamtes Schuljahr.
Die Ergebnisse zeichnen ein drastisches Bild: Während der Schulwochen überschreiten durchschnittlich 30 Prozent der Vollzeit-Lehrkräfte die gesetzliche Arbeitsschutzgrenze von 48 Stunden pro Woche. Insgesamt leisten 64 Prozent der Lehrkräfte Mehrarbeit. Besonders betroffen sind neben Schulleitungen und Gymnasiallehrkräften auch Teilzeitkräfte – je geringer der Teilzeitumfang, desto höher die Mehrarbeitsbelastung. „Dies deutet darauf hin, dass viele Lehrkräfte Teilzeit wählen, um die Aufgabenflut zu bewältigen und so faktisch ihren Arbeitsschutz selbst finanzieren“, schlussfolgerte Martina Regulin, Vorsitzende der Berliner GEW.
Nach Angaben der Autoren summieren sich die unbezahlten, nicht angeordneten Überstunden auf mehr als zwei Millionen Stunden pro Jahr. Zum Ausgleich seien rechnerisch mehr als 1.300 zusätzliche Vollzeitstellen nötig, sagte Studienleiter Frank Mußmann. Zur Einordnung: Aktuell arbeiten laut Bildungsverwaltung rund 35.900 Lehrkräfte an Berlins Schulen, ein Teil davon in Teilzeit. „Diese Überlastung ist keine Ausnahme, sondern Alltag – mit Elterngesprächen am Abend, Korrekturen in der Nacht und Unterrichtsvorbereitungen am Wochenende“, so Regulin.
Und weiter: „Der Senat spart auf Kosten der Lehrkräfte – das ist ein Skandal. Das Deputatsystem bildet die tatsächlich geleistete Arbeit nicht ab. Es regelt nur den Unterricht und Funktionen, also nur ein gutes Drittel der gesamten Tätigkeit, aber nicht die vielen Aufgaben, die unsere Kolleg*innen zusätzlich übernehmen müssen, um gute Bildungsqualität sicherzustellen. Wir fordern: Der Senat muss die tatsächliche Arbeitszeit vollständig erfassen und gemeinsam mit den Personalräten verbindliche Regelungen zum Abbau der Mehrarbeit* schaffen.“
Die Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften ist politisch ein heißes Eisen – bundesweit: Obwohl es zwei Gerichtsurteile bereits von 2019 (Europäischer Gerichtshof) und von 2022 (Bundesarbeitsgericht) gibt, die Arbeitgeber grundsätzlich dazu verpflichten, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“, wie die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage hin erklärte.
Die rot-grün-gelbe Bundesregierung hatte ein entsprechendes Gesetz allerdings auf die lange Bank geschoben, weil unter anderem die FDP sich querstellte. Im Wortlaut Schoppers las sich das so: „Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat im Nachgang zum Beschluss des Bundesarbeitsgerichts angekündigt, eine Regelung zur Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz vorzulegen. Eine solche liegt bisher nicht vor.“
„Wenn die Lehrerinnen und Lehrer anfingen, ihre tatsächliche Arbeitszeit aufzuschreiben, dann würde deutlich, dass wir 20.000 bis 25.000, vielleicht bis zu 30.000 zusätzliche Lehrkräfte brauchen“
Dass auch ohne eine solche Regelung die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bei Lehrkräften besteht (wie das Bundesarbeitsministerium in einem Brief an die KMK klarstellte und unlängst die Bremer Bildungssenatorin Sascha Aulepp, SPD, dann auch öffentlich einräumte) focht Schopper und die meisten übrigen Kultusminister*innen in Deutschland bisher nicht an: Sie wollten das Thema offensichtlich aussitzen. Schopper betonte: „Eine zeitnahe Einführung einer Arbeitszeiterfassung von Lehrkräften ist derzeit nicht geplant.“
Auch Karin Prien (CDU) erteilte dem Ansinnen eine Absage. Noch als schleswig-holsteinische Bildungsministerin (mittlerweile ist sie zur Bundesbildungsministerin aufgestiegen) erklärte sie im März im Kieler Landtag, das Thema in der laufenden Legislaturperiode nicht angehen zu wollen. Und damit stehe sie nicht allein da: Die Bundesländer verträten, so Prien, in der KMK die Auffassung, dass eine „Bereichsausnahme von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung“ notwendig sei. Im Klartext: Für Lehrkräfte soll sie schlicht nicht gelten.
Warum sträuben sich Kultusminister so sehr? „Wenn die Lehrerinnen und Lehrer anfingen, ihre tatsächliche Arbeitszeit aufzuschreiben, dann würde deutlich, dass wir 20.000 bis 25.000, vielleicht bis zu 30.000 zusätzliche Lehrkräfte brauchen. Das kommt noch drauf auf den Mangel, den wir sowieso haben“, so erklärte der ehemalige Berliner Staatssekretär für Bildung und dortige SPD-Vize Mark Rackles mit Blick auf ganz Deutschland. Rackles muss es wissen: Er ist Autor einer Studie über das gängige Arbeitszeitmodell in Schulen (News4teachers berichtete). „Lehrer sind alles andere als faule Säcke“, sagt er.
Doch jetzt kommt womöglich – endlich – Bewegung in die Angelegenheit. Bremen war das erste Bundesland, das aus der Phalanx der Verweigerer ausscherte – und im Mai einen Modellversuch zur Erfassung der Arbeitszeit von Lehrkräften für 2026 ankündigte (News4teachers berichtete).
Eine Lehrkraft reichte zudem unlängst mit Unterstützung des Philologenverbands Klage gegen das Land Baden-Württemberg als Dienstherren ein (News4teachers berichtete auch darüber) – was zum Präzedenzfall werden könnte. „Unsere Mitglieder sind nicht mehr bereit, diese strukturelle Überbelastung als Normalzustand hinzunehmen“, erklärte Landesvorsitzende Martina Scherer. Der Philologenverband fordert eine realistische Anpassung der Lehrkräfte-Arbeitszeitverordnung, die der tatsächlichen Belastung von Gymnasiallehrkräften endlich gerecht werde – was eine Arbeitszeiterfassung voraussetzt. News4teachers