BERLIN. Ein Kind muss sechzig Mal schreiben: „Ich spreche Deutsch in der Schule.“ Der Grund: Es hatte sich in seiner Muttersprache unterhalten. Kein Einzelfall – sagt jedenfalls die Anti-Rassismus-Trainerin Gina Waibel (bis vor Kurzem selbst Lehrerin). Immer wieder belegten Lehrkräfte Kinder mit migrantischem Hintergrund mit Strafarbeiten, wenn sie auf dem Pausenhof Türkisch, Arabisch oder Albanisch sprechen. Ein Fall kam bereits vor Gericht.
„Ich spreche Deutsch in der Schule“ – 30 Mal ist dieser Satz in Kinderschrift auf einer Seite zu sehen. Insgesamt 60 Mal musste ein Kind diese Worte in sein Heft schreiben. Der Grund: Es hatte sich in der Schule in seiner Muttersprache unterhalten. Der Fall stammt aus dem vergangenen Jahr – und reiht sich ein in eine Reihe ähnlicher Vorfälle, bei denen Lehrkräfte Sprachen wie Türkisch, Arabisch oder Albanisch im Schulalltag sanktionieren.
Schon 2020 war in Baden-Württemberg ein ähnlicher Fall dokumentiert worden: Eine Drittklässlerin musste zur Strafe, weil sie sich mit einer Mitschülerin auf dem Schulhof auf Türkisch unterhalten hatte, einen Aufsatz darüber schreiben, warum sie in der Schule Deutsch zu sprechen habe. Sie schrieb (Fehler im Original): „In Deutschland ist die offizielle Sprache deutsch. Ihr wollt, dass wir Deutsch sprechen. Die Schulen sind Deutsch. Wenn wir Türkisch sprechen, verstehn die Kinder uns nicht. Wir dürfen die Muttersprache nicht sprechen. Damit wir besser deutsch sprechen können.“
Die Praxis wirft ein Schlaglicht auf einen heiklen Punkt im deutschen Schulwesen: Noch immer werden Strafarbeiten eingesetzt – und noch immer gibt es Sprachverbote, die sich fast ausschließlich gegen Kinder mit Migrationshintergrund richten.
Die ehemalige Lehrerin und heutige Antirassismus-Trainerin Gina Waibel hat das Foto der Strafarbeit auf Instagram geteilt. Gegenüber BuzzFeed News von Ippen.Media sagt sie: „Eigentlich müsste jede Deutschlehrkraft gegen Abschreiben sein. Aber das ist an jeder Schule Alltag. Selbst mit einer progressiven Schulleitung wird es immer Lehrkräfte geben, die ihre Machtposition ausnutzen.“
Von Strafarbeiten halte sie grundsätzlich nichts: „Wenn ein Schüler mutwillig etwas beschädigt, sollte er den Schaden beseitigen, statt die Hausordnung abzuschreiben.“ Entscheidend sei jedoch der Anlass. „Wenn einem Kind verboten wird, in der Pause in seiner Muttersprache zu sprechen, verliert es die Lust, Deutsch zu lernen“, erklärt Waibel. „Mit der Zeit lernen Schülerinnen und Schüler, welche Sprachen als gut und welche als schlecht gelten.“
Die Lehrerin a. D. kritisiert eine systematische Abwertung migrantischer Sprachen: „Während Kinder, die Französisch oder Englisch sprechen, gelobt werden und als kultiviert und gebildet gelten, erfahren Kinder, die Arabisch, Türkisch oder Albanisch sprechen, viel Abwertung.“ Dabei sei längst wissenschaftlich belegt, dass Mehrsprachigkeit den Erwerb weiterer Sprachen fördere. „Viele Kinder mit Migrationshintergrund sind ohnehin marginalisiert. Wenn sie dann etwas Privates in ihrer Erstsprache erzählen möchten, wird ihnen auch dieser eine Vorteil genommen.“
Das häufig vorgebrachte Argument, Kinder könnten in ihrer Muttersprache über Lehrkräfte lästern, weist Waibel zurück: „Wenn sie nicht wollen, dass die Lehrkraft das hört, hätten sie sich in der Pause auch entfernen können. Schließlich sprechen auch deutschsprachige Kinder über ihre Lehrkräfte.“
Die Botschaft sei fatal – und betreffe auch deutsche Kinder. „Sie erfahren, dass ihre Sprache immer an erster Stelle steht. Dadurch entstehen automatisch Hierarchien, die sich negativ verfestigen“, warnt Waibel. Sie habe Fälle erlebt, in denen deutsche Schüler Mitschüler zurechtwiesen: „Hier wird Deutsch gesprochen.“
Rechtlich sind Strafarbeiten keineswegs in allen Formen gedeckt. Die Schulgesetze der Länder unterscheiden zwischen erzieherischen Einwirkungen – wie erzieherischem Gespräch, Ermahnung, Nacharbeit oder Wiedergutmachung – und Ordnungsmaßnahmen, zu denen etwa Verweise oder Ausschlüsse gehören. Erniedrigende Strafen sind unzulässig.
„Besorgniserregend ist, dass von derartigen Sanktionen offenbar nur Sprachen wie Türkisch oder Arabisch betroffen sind“
Der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Kai Hentschelmann schildert einen Fall: Ein Siebtklässler musste, weil er Hausaufgaben vergessen hatte, zweihundert Mal den Satz „Ich bin zu blöd, meine Hausaufgaben zu erledigen“ schreiben. Hentschelmann kommentiert: „Strafen, die das Kind erniedrigen, liegen keinesfalls im pädagogischen Ermessen. Sie sind vielmehr unzulässig.“
Wie problematisch Sprachverbote und damit verbundene Strafarbeiten sind, zeigt der eingangs geschilderte Fall aus Baden-Württemberg. Das juristische Portal Jurios schilderte, wie es dabei weiterging, nachdem das Mädchen den Aufsatz geschrieben hatte.
Die Mutter der Neunjährigen legte Beschwerde ein – zunächst ohne Erfolg (News4teachers berichtete). Erst nachdem die Eltern einen Anwalt einschalteten und vor dem Verwaltungsgericht Freiburg klagten, kam Bewegung in die Geschichte. Vor Gericht kam es zwar nicht zu einem Urteil, wohl aber zu einem Vergleich: Das Land Baden-Württemberg, vertreten durch das Regierungspräsidium Freiburg, räumte ein, dass die Strafarbeit rechtswidrig gewesen sei.
Begründung: Die Maßnahme verletze die Schülerin in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Die Begründung der Schule, fast die Hälfte der Kinder habe einen Migrationshintergrund, trug vor Gericht nicht. Auch die Berufung der Lehrerin auf ihre „pädagogische Entscheidungsfreiheit“ verfing nicht.
Der Anwalt der Familie zeigte sich nach dem Vergleich erleichtert – warnte aber zugleich: „Besorgniserregend ist, dass von derartigen Sanktionen offenbar nur Sprachen wie Türkisch oder Arabisch betroffen sind.“ Gegen die beteiligte Lehrerin wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Das Mädchen besucht inzwischen ein Gymnasium. News4teachers