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Streit um Aufnahmetests: „Es gehen einfach zu viele Kinder aufs Gymnasium, die nicht gerne lernen” – eine Lehrerin berichtet

HANNOVER. Gehen zu viele Kinder aufs Gymnasium? In Niedersachsen fordert die CDU Aufnahmetests, um Überforderung und spätere Rückstufungen zu vermeiden. Die Politik ist gespalten, die Lehrerverbände ebenso. In der Praxis sind die Probleme aber offenbar drängend: Eine niedersächsische Gymnasiallehrerin berichtet eindringlich von dem, was sie seit einigen Jahren zunehmend erlebt – überforderte Kinder, drängende Eltern, gescheiterte Bildungskarrieren. Ob aber Aufnahmetests helfen würden? Jüngste Erfahrungen aus anderen Bundesländern werfen Zweifel auf.

Lust aufs Lernen? (Symbolfoto.) Foto: Shutterstock

Fast jedes zweite Kind in Deutschland wechselt nach der Grundschule aufs Gymnasium. Doch ist das wirklich für alle der richtige Weg? In Niedersachsen sorgt diese Frage gerade für heftige politische Debatten. CDU-Fraktionschef Sebastian Lechner fordert Aufnahmeprüfungen, weil aus seiner Sicht zu viele Schülerinnen und Schüler den Anforderungen nicht gewachsen seien und später zurückgestuft werden müssten. „Das ist belastend für Eltern und Kinder“, sagte Lechner im NDR-Sommerinterview. Seine Lösung: „Einstellungs- und Aufnahmetests für das Gymnasium“ (News4teachers berichtete).

Doch genau hier gehen die Meinungen auseinander – und zwar nicht nur zwischen Politik und Schule, sondern auch innerhalb der Lehrerschaft. Der Philologenverband Niedersachsen, der vor allem Gymnasiallehrkräfte vertritt, lehnt solche Tests strikt ab. „Solche Tests braucht es ebenso wenig wie ein verpflichtendes Grundschulgutachten“, betont Landeschef Christoph Rabbow. Entscheidend müsse der Elternwille bleiben, außerdem sei es Aufgabe der Gymnasien, in den Jahrgängen 5 und 6 sorgfältig zu beobachten, ob ein Kind die richtige Schulform gefunden habe. Auch das Kultusministerium in Hannover weist die Forderung zurück und spricht von „bildungspolitisch aus der Mottenkiste“.

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Damit positioniert sich der niedersächsische Philologenverband allerdings deutlich anders als manche Schwesterverbände: In Baden-Württemberg etwa hatte der Philologenverband vehement für die Rückkehr zur verbindlichen Grundschulempfehlung gekämpft – mit Erfolg. Dort müssen Kinder seit Kurzem wieder nach einer verpflichtenden Lehrerempfehlung sortiert werden. In Niedersachsen hingegen hält man am Elternwillen fest.

„Schule ist ja nur ein Spiegelbild der Gesellschaft. Es klingt hart, aber die Gesellschaft ist kränker geworden und unsere Kinder sind es auch“

Dass in der Realität an den Schulen durchaus Problemdruck besteht, zeigt der Erfahrungsbericht einer niedersächsischen Gymnasiallehrerin, die seit 25 Jahren Musik und Spanisch unterrichtet und den die „Welt“ nun veröffentlicht hat. „Als ich vor 25 Jahren, im Jahr 2000, als Lehrerin anfing, da haben wir teilweise im Unterricht noch Kassetten abgespielt. Das Verhalten der Kinder, die Wertigkeiten der Eltern haben sich seitdem stark verändert. Schule ist ja nur ein Spiegelbild der Gesellschaft. Es klingt hart, aber die Gesellschaft ist kränker geworden und unsere Kinder sind es auch.“

Sie stellt eine Entwicklung fest, die für sie dramatisch ist: „Früher hatte ich in der Klasse etwa zwei Drittel lernbereite Schüler. Höchstens ein Drittel hatte Schwierigkeiten. Heute ist es umgekehrt. Zwei Drittel haben keine Lust zu lernen und sind leistungsschwach. Die Stimmung kippt in den Klassen.“

Die Lehrerin erzählt von Schülern, die schlichtweg nicht arbeiten wollen. „Ich habe etwa einen Schüler in der fünften Klasse, zehn Jahre alt, er sitzt im Unterricht und guckt mich die ganze Zeit nur an. Er nimmt sein Heft nicht raus, auch wenn ich ihn mehrmals darum bitte. Er schreibt nichts, er will es einfach nicht. Es gibt etliche Kinder, die gucken einfach nur.“

Andere brächten regelmäßig keine Materialien mit, berichtete sie: „‚Ich habe kein Papier! Ich habe keinen Stift!‘ Oder: ‚Och nö, ich will jetzt nichts schreiben.‘ Das hat es vor 25 Jahren nicht gegeben. Dass ein Kind die Bücher auf den Tisch legt und sich lernbereit zeigt, indem es nicht den Kopf auf den Tisch legt, das ist fast schon die Ausnahme.“

Auch die Erziehungshaltung der Eltern habe sich gewandelt. „Es gibt nicht wenige Eltern, die ihre zehn-, elfjährigen Kinder morgens bis zum Klassenraum bringen und ihnen den Ranzen tragen. Es ist furchtbar. Die Kinder wachsen in dem Glauben auf, dass das Leben nur Spaß machen soll, und empfinden es als Zumutung, etwas zu tun, auf dass sie keine Lust haben.“

Nicht selten lasse man Kinder bei Schwierigkeiten sogar einfach zuhause: „Mehr und mehr lassen sich von ihren Eltern vom Unterricht abholen und legen sich mehrere Tage ins Bett. Sie lernen nicht mehr, schwierige Situationen zu bewältigen und entwickeln keine Resilienz.“

„Zu uns kommen Kinder, die auf der Grundschule eine Vier in Deutsch, Mathe und Englisch hatten“

Die Lehrerin sieht täglich, wie Kinder auf dem Gymnasium überfordert sind – und wie Eltern dennoch am Abitur festhalten. „Es gehen einfach zu viele Kinder aufs Gymnasium, die nicht gerne lernen. Und das ist ja keine schlimme Sache, sie hätten auf anderen Schulformen ihren Platz. Aber für uns Lehrkräfte ist es schwierig, weil wir ihnen Dinge vermitteln sollen, die ihnen gar nicht wichtig sind.“

Oft beginne es schon in den ersten Jahren: „Auf unserer Schule etwa würden vier Parallelklassen genügen. Aber wir müssen eine fünfte Klasse bilden, weil die Stadt es so will, weil die Eltern es so wollen. Zu uns kommen also Kinder, die auf der Grundschule eine Vier in Deutsch, Mathe und Englisch hatten. Für uns ist das ein Zeichen, dass das Gymnasium nicht das Richtige ist, weil diesen Kindern das Lernen nicht liegt.“

Die Eltern aber hielten am Gymnasium fest: „‚Ach, wir probieren es nochmal weiter‘, heißt es dann. Und in der siebten, achten Klasse, wenn es gar nicht mehr geht, bekommt das Kind dann keinen Platz mehr auf der Realschule, wir müssen es weiter durchziehen, und es macht ein Scheitern nach dem nächsten durch.“

Für die Lehrerin sind das bittere Erfahrungen: „Das ist so eine traurige Karriere. Früher konnte man sagen, Ihr geht zur Realschule, und dann sah man die Kinder ein Jahr später wieder, und es ging ihnen gut. Heute werden diese Kinder mit Macht auf dem Gymnasium behalten und sie verkümmern.“

„Wir sehen all die gescheiterten Kinder und die Probleme, die sich in der sechsten, spätestens siebten Klasse auftun“

Die Lehrerin plädiert für mehr Ehrlichkeit im Umgang mit Fähigkeiten und Erwartungen. „Viele Eltern glauben, dass sie ihren Kindern mit dem Abitur bessere Startmöglichkeiten schenken. Aber wir Gymnasiallehrer sehen das völlig anders. Wir sehen all die gescheiterten Kinder und die Probleme, die sich in der sechsten, spätestens siebten Klasse auftun. Wir sehen die traurigen Kinder und die Kinder, die in eine Nachprüfung gehen müssen und sich quälen, oder auch die Kinder, die mit einer Vier zufrieden sind, weil sie nicht glauben, dass sie mehr schaffen könnten. Diese Kinder wären mit dem Lernen von lebenspraktischen Inhalten viel besser bedient.“

Ihr Fazit fällt deutlich aus: „Warum müssen Kinder gequält werden? Wozu sollen sie Spanisch oder Französisch lernen, wenn sie in Deutsch, Mathe und Englisch eine Vier haben? Solche Kinder wären mit dem Lernen von lebenspraktischen Inhalten viel besser bedient.“

Und sie ergänzt: „Ein Kind wird nur dann glücklich, wenn es seinen Fähigkeiten entsprechend gefördert wird. Natürlich kann sich alles entwickeln, und es gibt immer Überraschungen. Gerade bei Jungen gibt es so mit 17 Jahren oft nochmal einen Schub. Aber nach meinen vielen Jahren als Lehrerin sehe ich in der fünften, sechsten Klasse schon relativ klar, welches Kind große Schwierigkeiten bekommen wird.“

Dass Aufnahmetests womöglich mehr Probleme verursachen als Lösungen bieten, machen die Beispiele Berlin und Baden-Württemberg deutlich. In Berlin führte der als „Probetag“ bezeichnete Aufnahmeversuch bei Kindern ohne Gymnasialempfehlung zu einem regelrechten Aufruhr: Nur 2,6 Prozent bestanden – ein Ergebnis, das von vielen als Verstärkung sozialer Ungleichheit bewertet wurde. Zudem zogen zahlreiche Eltern vors Verwaltungsgericht. Laut rbb24 gingen im Frühjahr Dutzende Eilanträge gegen die Teilnahme am Probeunterricht ein. Familien wollten ihre Kinder vor dieser zusätzlichen Belastung schützen – und zweifelten zugleich die Rechtmäßigkeit des Verfahrens an.

In Baden-Württemberg geriet der verpflichtende Leistungstest „Kompass 4“ zur heftigen Belastung. Nur sechs Prozent der Viertklässler erreichten in Mathematik das Niveau für eine Gymnasialempfehlung, und die Umsetzung wurde von allen Seiten scharf kritisiert. Lehrkräfte berichteten von Chaos, Überlastung und massivem Vertrauensverlust. Verbände sprachen von einem „Totalausfall“.

Vor allem aber: Eltern liefen Sturm. Der Landeselternbeirat Baden-Württemberg warnte, dass das Verfahren „in diesem Jahr noch nicht ausschlaggebend sein dürfe“ – und rechnete sogar mit einer „Klagewelle“, falls die Maßnahme durchgezogen wird. Ebenso deutlich: Verbände wie die GEW forderten den sofortigen Stopp von „Kompass 4“ und sprachen von einem gescheiterten Verfahren. News4teachers 

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