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Debatte um Bildungsgerechtigkeit: Jetzt äußert sich ein Lehrer – und sagt: “Machbar, wenn…”

BERLIN. Die jüngste PISA-Erhebung hat Deutschland Fortschritte in Sachen Bildungsgerechtigkeit attestiert. Doch nach wie vor gehören Kinder aus armen, bildungsfernen und/oder eingewanderten Familien überproportional häufig zu den leistungsschwächeren. Eine Ungerechtigkeit? Auf News4teachers ist eine Debatte darüber entbrannt. Nach dem Kommentar eines Bildungswissenschaftlers (Rainer Dollase), der Gegenrede eines Journalisten (News4teachers-HerausgeberAndrej Priboschek) und der Entgegnung eines Verbandsfunktionärs (Josef Kraus, Ehrenpräsident des Deutschen Lehrerverbands) kommt auf News4teachers nun die Perspektive eines Lehrers.

Unser Gastautor, Michael Felten, hat Mathematik und Kunst unterrichtet, er lehrt an der PH Heidelberg und berät Schulen bei ihrer Entwicklung, darüber hinaus ist er Kolumnist der Wochenzeitung “Die Zeit” und publiziert zum Thema Unterrichtsqualität (zuletzt: “Nur Lernbegleiter? Unsinn, Lehrer! Lob der Unterrichtslenkung”).

Wie lassen sich Kinder aus bildungsfernem Umfeld besser fördern? Foto:
Natasha Chub-Afanasyeva / flickr (CC BY 2.0)

Mehr Bildungsgerechtigkeit – ohne Scheuklappen wäre das machbar!

In Deutschland herrscht Bildungsungerechtigkeit, diese Klage weht alle Jahre wieder über die Schullandschaft. Arbeiterkinder seien an unseren Gymnasien weitaus dünner gesät als Arztkinder – und sie studierten seltener als in anderen Ländern. Um es gleich vorweg zu sagen: Der mit Vorliebe ausgemachte Übeltäter – die Mehrgliedrigkeit des hiesigen Schulsystems – scheint eher unschuldig zu sein: Laut Langzeitstudie des Unterrichtsforschers und Gesamtschulfreundes Helmut Fend erhöht die Einheitsschule die Bildungsgerechtigkeit jedenfalls nicht.

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Dass soziale Herkunft oder elterliches Vermögen möglichst wenig über berufliche Positionen in Wirtschaft und Gesellschaft bestimmen sollten, darüber besteht zumeist Konsens. Da nun – qua Organismus und Familie – stets auf’s Neue primäre Ungleichheiten entstehen, darf der Staat dem nach Kräften entgegenwirken. Die gute Nachricht: Das wäre auch möglich. Die schlechte: Dafür müsste man einige Goldene Kälber schlachten. Mehr Bildungsgerechtigkeit geht nämlich so:

1. Vernünftig unterrichten!

Was hilft sozial benachteiligten Kindern am besten, sich aus ihrem Status zu befreien? Die Antwort klingt nur altmodisch, ist aber forschungsbasiert: ein direkt anleitender und anregender, geduldiger und ermutigender Unterricht. Lernsequenzen klar strukturieren, hohe Erwartungen haben, individuelle Unterstützung anbieten, mit Feingefühl und Führungsfreude leiten – in solchen Klassen lernen alle Schüler nachweislich am meisten, auch die starken. Nur so lassen sich wirklich Rückstände kompensieren, Potentiale entfalten, Überbrückungsarbeit leisten. Natürlich braucht es dazu auch genug Lehrer.

Kontraproduktiv dagegen die zeitgeistige Unterrichtsparole “je eigenverantwortlicher, (gemeint ist Einzellernen mit Arbeitsblattstapeln), desto erfolgreicher”. Das Ergebnis solcher Selbstlernidyllik ist nämlich keineswegs Tiefgang, sondern Oberflächlichkeit. Der Erziehungswissenschaftler Hermann Giesecke hat schon lange kritisiert, dass “nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, gerade Kinder aus bildungsfernem Umfeld diskriminiert” – und gleiches gilt für die wachsende Schar emotional instabiler Kinder. Die Lernforschung konnte das breit bestätigen: “direct instruction” etwa – also abwechslungsreicher, lehrergelenkter Klassenunterricht – hat sich als eine der leistungsförderlichsten Arbeitsformen erwiesen, gerade in prekären Milieus. Die derzeit heiligen Kühe wie “Freiarbeit” oder “Individualisierung” schneiden dagegen vergleichsweise wirkungslos ab.

2. Von Eltern etwas verlangen!

Bildungsgerechtigkeit braucht auch Lehrer mit Rückgrat – nämlich den Eltern gegenüber: Arbeitereltern etwa aktiv dazu zu ermutigen, ihr kluges und tüchtiges Kind trotz eigenen Zauderns auf’s Gymnasium zu schicken. Oder dem Arztpaar standzuhalten, das den verwöhnten Sprössling auf keinen Fall auf der Stadtteilschule sehen will. Der Elternschaft überhaupt frühzeitig klarmachen, dass es mittlerweile hierzulande 60 verschiedene Wege zum Abitur gibt (Warum muss es unbedingt der schwierigste sein?) – und noch viel mehr in interessante Fachausbildungen. Nicht zuletzt sich sicher sein, dass keineswegs nur die Schule Bildungsverantwortung trägt – etwa 60% der Lernleistungen gehen schließlich auf biografische Faktoren zurück, dazu gehört auch der tatsächlich entstandene individuelle Anstrengungswillen.

Insofern kann es ja auch nur ein Recht auf Bildung geben, keines auf Bestnoten! Aber dabei könnte der Staat überraschende Akzente setzen. Etwa indem er aus Kultusmitteln clevere Werbekampagnen für ein lernförderliches Erziehungsklima finanziert – Fernsehspots, Plakate und Anzeigen, mit Slogans wie „Was Deinem Kind fehlt? Dass Du öfter mit ihm redest!“ oder „Dein Kind ist stärker, als Du denkst – räum’ ihm nicht alle Probleme aus dem Weg!” An Kindern nämlich, die vorwiegend vor der Mattscheibe geparkt werden, denen niemand eine Portion Mithilfe im Haushalt gönnt, beißt sich die Schule alleine eher die Zähne aus.

3. Die Zahlen entzaubern!

Wenn unser Schulsystem zu wenig zur Entkopplung von Herkunft und Leistung beiträgt, dann stehen wir damit jedenfalls nicht alleine da. In Frankreich, England und den Benelux-Staaten herrscht sogar stärkere Bildungsungerechtigkeit als bei uns. Dagegen können Kanada, Mexiko, Island, Finnland, Korea und Japan schwächere soziale Gradienten vorweisen. Können diese Länder also Hoffnungsträger für uns sein?

Beispiel Finnland: Aus prinzipiellen Gründen kann leider niemand eindeutig beweisen, welcher Umstand eigentlich für die (bis vor kurzem) exzellenten Schulleistungen verantwortlich ist: dass es dort nur Einheitsschulen gibt, dass die Lehrer vorwiegend frontal unterrichten, dass es viel schulische Unterstützung für den Einzelnen gibt, dass das Land kaum Migranten besitzt, dass die Jugendarbeitslosigkeit doppelt so hoch ist wie bei uns, dass Kinder schon früh lesen lernen müssen – weil es so wenig synchronisierte Filme gibt. Wenn man zwei Sachverhalte gleichzeitig misst, müssen sie noch lange nicht in einem Kausalitätsverhältnis stehen („Storchendilemma“). Eines aber steht fest: Im Land der 1000 Seen wird bereits das Pflegepersonal an Hochschulen ausgebildet. Wird also dort die Tochter eines Arbeiters Krankenschwester, so gilt dies bereits als Bildungsaufstieg. Ähnlich liegt der Fall in Japan: Wenn dort 92,7% der Schülerväter uniberechtigt sind, ist soziale Disparität unter den Schülern per se weitgehend unmöglich! Und Kanada lässt vor allem Migranten mit hohem Aufstiegsantrieb ins Land.

Auch innerdeutsch besagen formale Quoten wenig, letztlich entscheiden die tatsächlich vermittelten fachlichen Fähigkeiten. So mögen in Bremen zwar weitaus mehr Migranten- und Arbeiterkinder eine „höhere Schule“ besuchen als in Bayern, aber das nützt ihnen nicht viel – die Leistungen ihrer bayrischen Altersgenossen sind selbst dann im Durchschnitt besser, wenn sie an Haupt- oder Realschulen lernen. Deshalb gilt das Voralpenland laut jüngster Resilienz-Studie ja in puncto Bildungsgerechtigkeit als bundesweiter Spitzenreiter.

Jeder voreilige Blick auf angebliche Gerechtigkeitskoeffizienten greift eben zu kurz: Man vergleicht dann nur Äpfel mit Birnen. Auch ansonsten kann genaues Hinsehen nie schaden. So nennt Pisa zwar die besuchte Schulklasse, nicht aber den später erreichten Abschluss. Aber was alles kann nach einer Messung im 9. Jahrgang noch passieren! Letztlich studieren an deutschen Unis ähnlich viele Arbeiterkinder (16%) wie in Frankreich oder Italien (18 bzw. 14%).

Also weniger ungedeckte Aufregung, mehr zielführende Taten! Die aktuelle Resilienz-Studie identifiziert hierzulande genau zwei signifikante Förderfaktoren: geordneten Unterricht (disciplinary climate) und “extracurriculare” Aktivitäten. Quod esse demonstrandum.

Von ganz anderen Ungerechtigkeiten rund um’s Lernen wird übrigens zu wenig geredet. Warum etwa werden deutsche Lehrer umso geringer entlohnt, je mehr sie arbeiten und je wichtiger sie für die Bildungsweichen eines Kindes sind? In Japan betitelt man bereits die Kindergärtner als sensei (Professor) – und besoldet sie auch so! Oder: Warum müssen sich bayrische Schüler für den gleichen Schulabschluss mehr anstrengen als ihre Kameraden in Hamburg? Abhilfe baldigst erwünscht …

Gastkommentar: Gegen das Dogma von der Bildungsgerechtigkeit – Programme, mit denen wir aus jedem Kind einen Vollakademiker machen, kann es nicht geben

Drängender denn je: Warum wir mehr Chancengerechtigkeit im Schulsystem brauchen – eine Gegenrede

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