BERLIN. Die PISA-Studie hat gezeigt: Die Begeisterung fürs Lesen ist bei Jugendlichen nicht besonders groß und viele haben Probleme, Texte überhaupt zu verstehen. Lesen muss in den Familien und in der Schule wieder einen größeren Stellenwert bekommen, wird nun gefordert. Die Philologen wollen das Lesen von “Ganzschriften” in den Deutsch-Lehrplänen der Mittel- und Oberstufen zur Pflicht machen.
Nach den ernüchternden Ergebnissen des Schulleistungsvergleichs PISA zur Lesekompetenz und Lesefreude deutscher Schüler (News4teachers berichtete) werden Forderungen nach mehr Anstrengungen in Schule und Familie laut. Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) rief Eltern dazu auf, ihren Kindern mehr vorzulesen. Der Deutsche Philologenverband forderte eine Pflicht, im Deutschunterricht Bücher komplett zu lesen.
Die deutlichsten Leistungseinbußen gibt’s bei der Lesekompetenz
Die PISA-Studie hat vor allem im Bereich Lesen besorgniserregende Befunde hervorgebracht: Die deutschen Schüler haben sich zwar in allen drei Bereichen der internationalen Vergleichsstudie – Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften – verschlechtert, in Sachen Lesekompetenz ist der Rückgang aber am deutlichsten (um 11 Punkte). Zwar sehen die Bildungsforscher in “demografischen Veränderungen” der Schülerschaft in Deutschland eine Ursache dafür. Doch auch ohne die Aufnahme der Flüchtlingskinder hätten sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler hierzulande verschlechtert. Jeder fünfte 15-Jährige kann nicht einmal auf Grundschulniveau lesen.
Neben den Tests, die die Schüler absolvieren mussten, wurde auch das Thema “Lesefreude” abgefragt. Im Zehnjahresvergleich wird dabei sichtbar, dass das Interesse der Jugendlichen am Lesen abnimmt. Jeder zweite befragte 15-Jährige in Deutschland sagt mittlerweile: Ich “lese nur, wenn ich lesen muss” oder “um Informationen zu bekommen, die ich brauche”. Lesen als liebstes Hobby gibt nur noch jeder Vierte an. Mehr Schüler (34 Prozent) sagen dagegen, für sie sei Lesen Zeitverschwendung.
Neben der Familie sieht Karliczek auch Kitas und Schulen in der Pflicht
“Eltern sollten ihren Kindern schon früh vermitteln, dass Lesen und Bücher zum Leben gehören und das Leben bereichern”, sagte Karliczek nun im Gespräch. “Das beginnt damit, dass Eltern, aber auch vielleicht die Omas und Opas, den Kindern möglichst früh vorlesen. Am besten jeden Abend vor dem Schlafengehen.” Das stärke auch die Beziehung zu den Kindern. Gerade Feiertage und Ferien böten sich zum gemeinsamen Lesen in den Familien an.
Neben der Familie sieht Karliczek auch die Bildungsinstitutionen in der Pflicht, um Sprach- und damit auch Lesekompetenzen zu verbessern. In einem hoch entwickelten Land wie Deutschland müsse jeder gut lesen können, um in Gesellschaft und Arbeitsleben gut zurechtzukommen. Nach Ansicht der Ministerin geht es im Smartphone-Zeitalter vor allem um “vertieftes Lesen”. Nur darüber erschließe man sich komplexe Sachverhalte. Die CDU-Politikerin ist zum Beispiel auch für verbindliche Sprachprüfungen in den Kitas im Alter von vier Jahren. Dann sei genug Zeit, die Kinder bis zum Beginn der Schule zu fördern.
Der Deutsche Philologenverband betont die Wichtigkeit intensiver Lektüre auch im Unterricht. In manchen Bundesländern sei das Lesen ganzer Bücher gar nicht mehr vorgeschrieben, kritisiert die Philologen-Vorsitzende Susanne Lin-Klitzing im Gespräch. Das gelte beispielsweise für Thüringen, Niedersachsen und auch für Bremen ab der achten Klasse. Viele Schulen und Lehrer würden sich dann zwar in Eigenregie trotzdem dafür entscheiden. Aber: “Wenn Lehrkräfte sich dafür rechtfertigen müssen, dass sie von Schülerinnen und Schüler verlangen, sich durch eine (klassische) Lektüre zu arbeiten, weist das auf ein gesellschaftliches Problem hin.”
Philologen: Dass ein Fünftel der Schüler schlecht liest, “muss uns beunruhigen”
Das Lesen von sogenannten Ganzschriften sei wichtig, weil Leser sich dabei “gründlich und vertieft auch in andere Charaktere und Lebenswelten hineindenken und hineinfühlen”. Dadurch würden sie auch dazu animiert, gründlich und vertieft über sich selbst nachzudenken. Lin-Klitzing plädierte für mehr Verbindlichkeit: “Im Deutschunterricht sollte die Lektüre von Ganzschriften in jedem Schuljahr in der Mittel- und Oberstufe verpflichtend sein.” Zu den Ergebnissen der PISA-Studie sagte die Verbandsvorsitzende, sie teile zwar die “Katastrophenstimmung” nicht, “aber dass ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler nach wie vor zur Risikogruppe gehört und nicht vernünftig lesen kann, muss uns weiter beunruhigen”. News4teachers / mit Material der dpa
In Deutschland erreichten 79 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Bereich Lesekompetenz mindestens Stufe 2. Der OECD-Durchschnitt lag bei 77 Prozent. Diese Schüler können die Hauptaussage eines mittellangen Textes erfassen, sie können expliziten, zum Teil aber auch komplexen Kriterien entsprechende Informationen finden und nach ausdrücklicher Anweisung über die Funktion und die Form von Texten reflektieren.
Etwa 11 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland erfüllen die Anforderungen von Stufe 5 oder 6 des PISA-Lesekompetenztests. Sie zählen damit in diesem Bereich zu den besonders leistungsstarken Schülern (OECD-Durchschnitt: 9 Prozent). Schüler, die diese Kompetenzstufen erreichen, können längere Texte verstehen, mit abstrakten und kontraintuitiven Konzepten umgehen und aufgrund von impliziten Hinweisen in Bezug auf Inhalt oder Informationsquelle zwischen Fakten und Meinungen unterscheiden. In 20 Ländern bzw. Volkswirtschaften, darunter 15 OECD-Länder, zählten mehr als 10 Prozent der 15-Jährigen zur Kategorie der besonders leistungsstarken Schüler.
Die Mädchen schneiden in Deutschland im Bereich Lesekompetenz deutlich besser ab als die Jungen. Sie erzielten im Schnitt 26 Punkte mehr (OECD-Durchschnitt: 30 Punkte). Ihr Leistungsvorsprung war damit allerdings geringer als im Jahr 2009, als er noch 40 Punkte betrug.
Der Leistungsunterschied im Bereich Lesekompetenz zwischen Schülerinnen und Schülern mit günstigem sozioökonomischem Hintergrund und solchen mit ungünstigem Hintergrund ist in Deutschland beträchtlich. Er hat sich seit 2009 um 9 Prozentpunkte ausgeweitet. Die privilegiertesten 25 Prozent der Schüler haben gegenüber den sozioökonomisch am stärksten benachteiligten 25 Prozent einen Leistungsvorsprung von 113 Punkten –das sind 24 Punkte mehr als im OECD-Durchschnitt (89 Punkte). Trotzdem liegen in Deutschland etwa 10 Prozent der sozioökonomisch benachteiligten Schülerinnen und Schüler im obersten Quartil der Leistungsverteilung. Dies entspricht in etwa dem OECD-Durchschnitt (11 Prozent).
Zwischen Schülern mit und Schülern ohne Migrationshintergrund besteht im Bereich Lesekompetenz ein Leistungsabstand von 63 Punkten. Dieser Abstand ist auch nach Berücksichtigung des sozioökomischen Profils der Schüler und der Schulen noch vergleichsweise groß (17 Punkte). 16 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund konnten sich jedoch trotz ihrer relativen sozioökonomischen Benachteiligung im obersten Quartil der Leistungsverteilung platzieren.
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