BERLIN. In der vergangenen Woche sorgte die PISA-Studie einmal mehr für Schlagzeilen. Die deutschen Schüler haben sich danach gegenüber der letzten Erhebung in allen Kategorien – Leseverständnis, Mathematik, Naturwissenschaften – verschlechtert (News4teachers berichtete). Alle drei Jahre kommt eine Neuauflage der größten empirischen Bildungsstudie der Welt. Alle drei Jahre bekommt Deutschland dabei attestiert, dass es aus internationaler Sicht mehr oder weniger im Mittelfeld liegt. Unser Gastkommentator, der renommierte Psychologe und Bildungsforscher Prof. Dr. Rainer Dollase, hält PISA für überflüssig – ein Debattenbeitrag.
Hier geht es zu einer Gegenrede von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
„Alle Jahre wieder…“ oder „Ceterum censeo“ – PISA 2019 ist schön, aber nutzlos
Von Rainer Dollase
Also – PISA ist ja ein wirklich tolles Unternehmen – welch ein empirischer Aufwand, wie raffiniert die Methodik und Auswertung, wie teuer das Unternehmen, wie ellenlang die Zitatlisten von Menschen, die sich kritisch und unkritisch damit befasst haben – so echt was für einen neuen Studiengang „Experte*in werden durch Lesen von Evaluationsberichten“. Zigtausend Seiten Literatur gibt es ja schon – vor lauter Lesen von solchen Berichten und Traktaten kommt man erfreulicherweise nicht mehr zu praktischen Erfahrungen. Warum auch? Da erfährt man ja auch nichts anderes, als das, was in den Berichten steht. Und das ist ja auch gut so.
Nun, bevor man Ironie für Wahrheit hält (ja, wahr sind die Zitate schon- das ist ja die Ironie) ein paar zentrale Wahrheiten, die von niemandem bestritten werden.
Die Bildungsforschung und die Bildungspolitik stochern im Nebel
1. PISA erlaubt keine eindeutigen kausalen Schlussfolgerungen darüber, was man tun muss, um besser zu werden. Die Bildungsforschung und – politik stochern angesichts der Ergebnisse buchstäblich im Nebel – es könnte ja alles mögliche schuld sein. Wie Pilatus wäscht auch das Bildungsmonitoring seine Hände in Unschuld: Man liefere ja nur „Impulse“ und „Denkanstöße“ – keine konkreten Handlungen oder Verhaltensweisen. Also könnte man auch sagen: „Ich finde vor allen Dingen, wir sollten uns ein Beispiel an Peru nehmen – die haben ein konsequentes Gesamtschulsystem“ …und sind viel schlechter als wir (Peru 2019 in Naturwissenschaften: 404 Punkte, Deutschland 503 Punkte). Ach so – ich meinte natürlich Finnland – 522 Punkte und Gesamtschule – ha. Und jetzt?
2. Gerade wegen dieser kausalen Unsicherheit – ist mit Ergebnissen mal so, mal so, mal besser, mal schlechter zu rechnen. Anfänglich haben wohl einige Blauäugige damit gerechnet, dass man immer besser wird, wenn man die Ergebnisse hätte (Sie wissen ja: „Die Sau wird vom vielen Wiegen fetter“) Und geglaubt, dass man, ihrer ansichtig, schon – („nach reiflicher Überlegung und gründlicher Reflexion“ – nein – auch dann findet man nicht mit Sicherheit die richtigen Stellschrauben – eine fürchterlich dumme Phrase) den richtigen Weg zur Verbesserung finden müsste – Pustekuchen. Deutschland dümpelt wie eh und je im Mittelfeld, im Mittelmaß, wird gerade mal wieder schlechter…. Outputsteuerung stellt sich selbst ein Bein. Sie ist der Weg ins Happelsche (Fußballtrainer) „Pressing“ und neudeutsche Schnatterwort „Agilität“ – ein zielloses Herumprobieren von irgendwas. Wie die Ratte im Skinnerschen Käfig findet man per Zufall – durch Agilität – den richtigen Hebel aus dem Milch und Honig strömt.
3. Die PISA Stichproben 2019 (5500 deutsche Schüler – klar: auch Schülerinnen) sind repräsentativ für ganz Deutschland. Die Ergebnisse also für die Länder – Kulturhoheit eher nutzlos, weil die innerdeutschen Unterschiede zu riesig sind. Zwischen Sachsen, Bayern, Thüringen, Sachsen Anhalt und dem Rest, gibt es in den MINT Fächern gigantische Abstände (IQB 2019). Schon frühere PISA-E Studien haben gezeigt, dass einige Bundesländer mit der internationalen Spitze mithalten können – andere überhaupt nicht.
4. In einem Land der flächendeckenden Konfusion über alle Lebensbereiche hinweg ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass schulischer Erfolg nicht nur von den paar Faktoren abhängt, die das PISA Konsortium verwendet. Hattie, der Sammler, machte immerhin schon 250 verschiedene Faktoren aus, die einen Einfluss auf die Leistungen der Schüler haben – PISA kommt mit etwas mehr als einer Handvoll aus (na gut: 15 Module des Fragebogens). PISA wendet sich an nationale Bildungspolitik – was die machen können, hat sowieso keine starken direkten Effekt auf Schülerleistungen – Fernfaktoren sind immer schlapper als Nahfaktoren (also z.B. engagierte gute Lehrkräfte).
Wenn man denn schon nur Impulse und Denkanstösse aus den Vergleichsstudien entnehmen kann, und keine handfesten Verursachungsfaktoren, dann würde ich vorschlagen, diese aus dem IQB Ländervergleich 2019 zu entnehmen.
Nötig: mehr Disziplin und einen deutlich konservativeren Unterricht
Kurz gesagt – auch wenn sich bei Mehrheiten der Bildungsforschenden Hitzewallungen einstellen werden – mehr Disziplin im Unterricht (also Ruhe) und einen deutlich konservativeren Unterricht. Abschaffung der Bewertung aller Leistungserbringungsformen, die nicht eindeutig dem Individuum zuzuschreiben sind (vulgo: Abschaffung der Benotung mündlicher Mitarbeit). Und – alle Lehrerausbildner und Bildungsforscher unterrichten regelmäßig jede Woche in einer Brennpunktschule und machen vor, wie guter Unterricht dort möglich ist. Wir fangen dann beum PISA-Konsortium an. Und „ceterum censeo“ – wir schaffen endlich wieder eine Praxisschule (Sie können auch Hauptschule sagen) für die bildungsmüden und anders interessierten Schüler – sie brauchen ihre spezifische Chance auf eine praxisnahe Qualifikation statt pseudoakademischem Laberunterricht.
Sie sollen geschätzte Mitglieder unserer Gesellschaft werden.
Alles aber wird nix, wenn niemand Leistung will.
Oder gäbe es da jemanden? Und nun? Gibt es nichts Positives zu berichten? Doch: Wir sind „Mittelmaß“ und im „Mittelfeld“ – die Länder von Donald Trump und Boris Johnson sind zwar besser, aber – sie wissen schon! Aber Putins Russland schlechter – na klar – haben wir ja immer gesagt.
Aber – wir waren früher, als sich die Medien nur marginal um internationale Vergleichsstudien gekümmert haben, grottenschlecht.
1974 – Andreas Schleicher war mal gerade 10 Jahre alt – schrieb Hayo Matthiesen in der ZEIT vom 20.9. 1974 über einen naturwissenschaftlichen internationalen Vergleich von Schülerleistungen: „Bei den Zehnjährigen in den vierten Grundschulklassen ‚liegen sämtliche Leistungen in der Bundesrepublik sehr wesentlich unter dem internationalen Durchschnitt.‘“
„Bei den Achtzehnjährigen im letzten Jahrgang der Sekundarstufe II ‚steht die Bundesrepublik am unteren Ende der Rangskala auf dem vorletzten Platz‘“
ZEIT, 1974, 20.9.1974, Hayo Matthiesen
Wir sollten uns, ganz ehrlich, vor Freude in den Armen liegen – endlich Mittelfeld und nicht mehr am letzten Ende – ist das nicht toll!?
Und so wünscht uns PISA, dieses Schmuckstück, wie ein festliches Geschenk der empirischen Bildungsforschung, also ein vor Kitsch überquellender, geschmückter Weihnachtsbaum – manchmal sieht der allerdings aus wie ein aus Käserinde gebastelter Eiffelturm – genauso schön, genauso gigantisch, genauso fein durchdacht – aber leider nutzlos.
Schöne Weihnachten.
Dr. Rainer Dollase war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2008 Professor in der Abteilung Psychologie und am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Die Vorschulerziehung stellte dabei einen seiner Arbeits- und Veröffentlichungsschwerpunkte dar. Später hat er sich einen Namen in der G8/G9-Debatte gemacht – als wortgewaltiger Gegner des Turbo-Abiturs. Dollase war Mitglied des Teams “Schule und Kultur” der nordrhein-westfälischen CDU im Vorfeld der letzten Landtagswahl.
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