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Ärzte fordern, Kitas und Schulen schnell komplett wieder zu öffnen – weder Abstandsregeln noch Schichtunterricht seien nötig

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BERLIN. Bisher war immer die Rede davon, dass ein Regelbetrieb in den Schulen und Kitas noch monatelang nicht möglich sein wird. Ärzte stellen das nun infrage: Mehrere medizinische Fachgesellschaften sprechen sich dafür aus, Kitas und zumindest Grundschulen «zeitnah» wieder vollständig zu öffnen – und zwar ohne Abstandsregeln oder Schichtunterricht. Widerspruch kommt vom Virologen und SPD-Gesundheitsexperten Lauterbach. Auch Bundesfamilienministerin Giffey warnt: Noch gebe es «keine gesicherten Erkenntnisse» darüber, inwieweit Kinder zum Infektionsgeschehen beitragen.

Ist regulärer Unterricht bald wieder möglich – ohne Abstandsregeln? Foto: Shutterstock

Mehrere medizinische Fachgesellschaften fordern ein Ende des Notbetriebs in Kindergärten und Schulen und eine umgehende unbeschränkte Wiederöffnung der Einrichtungen. In einer gemeinsamen Stellungnahme rufen unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte trotz Corona-Pandemie dazu auf. Der Schutz von Lehrern, Erziehern, Betreuern und Eltern und die allgemeinen Hygieneregeln stünden dem nicht entgegen, heißt es in dem Papier.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sieht den Vorstoß skeptisch. Aus Sachsen, wo Kitas und Grundschulen inzwischen wieder für alle Kinder geöffnet haben, kommt dagegen Zustimmung. «Wir fühlen uns bestärkt, den Kindern wieder zu ihrem Recht auf Bildung und Teilhabe zu verhelfen», sagte der sächsische Kultusminister Christian Piwarz (CDU) laut eines Tweets seines Ministeriums (Sachsen hat als bislang erstes Bundesland die Kitas und Grundschulen für alle Kinder wieder geöffnet und verzichtet dabei auf Abstandsregeln und Schichtunterricht – wir berichten hieer ausführlich über das durchaus umstrittene Modell).

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Die sozialen Folgen der Schulschließungen sind gravierend

«Insbesondere bei Kindern unter 10 Jahren sprechen die aktuellen Daten sowohl für eine geringere Infektions- als auch für eine deutlich geringere Ansteckungsrate.» Im Gegensatz dazu seien die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Schließung gravierend, schreiben die Medizinerverbände.

Wochenlang waren in ganz Deutschland Schulen und Kitas wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Seit Ende April wurde der Schulbetrieb stufenweise wieder aufgenommen. Schüler werden abwechselnd in der Schule und zu Hause unterrichtet und in kleinere Gruppen eingeteilt, um die Abstandsregeln einzuhalten. Der Deutsche Lehrerverband hatte die Prognose abgegeben, dass dies womöglich noch bis weit ins nächste Schuljahr so weitergehen könnte. In den Kitas wird derweil die Notbetreuung weiter ausgeweitet. Wann sie in den Regelbetrieb zurückgehen, entscheiden die Bundesländer selbst, ebenso über das weitere Vorgehen an den Schulen.

In ihrer Stellungnahme schreiben die Deutsche Gesellschaft für
Krankenhaushygiene, die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland: «Kitas, Kindergärten und Grundschulen sollen möglichst zeitnah wiedereröffnet werden» – und zwar ohne massive Einschränkungen. Es müssten keine kleinen Gruppen gebildet werden. Auch müssten die Kinder weder Abstand wahren noch Masken tragen. Für Lehr- und Betreuungspersonal wird das dagegen empfohlen.

«Entscheidender als die individuelle Gruppengröße ist die Frage der nachhaltigen Konstanz der jeweiligen Gruppe und Vermeidung von Durchmischungen», heißt es in dem Papier. Soll heißen: Es könnte durchaus eine komplette Klasse unterrichtet werden, solange man etwa in den Pausen darauf achtet, dass sich die Schüler in der Pause dann nicht mit anderen Klassen treffen.

Kein erhöhtes Ansteckungsrisiko durch Kinder – aber was heißt das?

Zu der umstrittenen Frage, wie ansteckend Kinder seien, schreiben die Autoren: «Zahlreiche Erkenntnisse sprechen gegen ein erhöhtes Ansteckungsrisiko durch Kinder.» Verschiedene Untersuchungen und Auswertungen «ergeben ein zunehmend schlüssiges Bild, dass Kinder in der aktuellen Covid-19-Pandemie im Gegensatz zur Rolle bei der Influenza-Übertragung keine herausragende Rolle in der Ausbreitungsdynamik spielen.»

Der Arzt und SPD-Experte Lauterbach schrieb bei Twitter: Die Kinderärzte meinten es sehr gut. Leider sei es aber falsch, dass Kinder eine geringe Bedeutung für die Pandemie hätten. Sie steckten sich und andere pro Kontakt weniger oft an. Da sie aber so viele Kontakte hätten, sei der Gesamtanteil wahrscheinlich hoch.

Schulchließungen haben einen großen Einfluss

Lauterbach bezieht sich dabei offenbar auf eine Studie von chinesischen, italienischen und US-amerikanischen Wissenschaftlern, die unlängst in der wissenschaftlichen Zeitschrift Science veröffentlicht wurde. Danach stecken sich zwar Klein- und Schulkinder bis 15 Jahre deutlich seltener mit dem neuen Sars-Virus an als ältere Menschen. Ihr Corona-Risiko beträgt demnach nur ein Drittel gegenüber dem von anderen Altersgruppen, wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet. Andererseits zeigt die Studie auch: Schüler haben unter normalen Bedingungen bis zu zehnmal mehr Kontakte mit anderen Menschen als Erwachsene. Wenn Kinder also infiziert sind, stecken sie womöglich deutlich mehr Menschen an. Die Schlussfolgerung der Forscher: Schulschließungen „haben einen großen Einfluss auf die Dynamik des Ausbruchs“.

Eine weitere Studie von Charité-Wissenschaftlern um den Virologen Prof. Christian Drosten war zu dem Ergebnis gekommen, dass Kinder das Coronavirus vermutlich genauso wie Erwachsene verbreiten (News4teachers berichtet ausführlich darüber – und zwar hier). „Kinder könnten genauso infektiös sein wie Erwachsene“, so heißt es in der Arbeit. Und: „Was die unbegrenzte Wiedereröffnung von Schulen und Kindergärten angeht, müssen wir in der gegenwärtigen Situation, in der immer noch ein Großteil der Bevölkerung nicht immun ist und die Übertragung allein durch nicht-pharmakologische Maßnahmen niedrig gehalten werden muss, äußerste Vorsicht walten lassen.“

Giffey: Keine gesicherten Erkenntnisse

Eine Simulation, über die der “Spiegel” unlängst berichtete, hat darüber hinaus die Schritte in Deutschland zur Eindämmung des Infektionsgeschehens nachvollzogen. Danach war “tatsächlich das volle Ausmaß der Interventionen zur sozialen Distanzierung notwendig, um die Welle so schnell abflachen zu lassen” – einschließlich der Schließungen von Kitas und Schulen. Dieser Schritt, verbunden mit der Schließung der meisten Geschäfte, habe die Wachstumsrate der Virusverbreitung von zwölf auf zwei Prozent sinken lassen. Eine Wachstumsrate von null Prozent enspricht einer Reproduktionszahl von eins.

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) erklärte mit Blick auf die Forderung der Ärztegesellschaften: «Wenn sich wirklich bewahrheiten sollte, dass Kinder eine geringere Infektions- und Ansteckungsrate haben, können wir anders über die Rückkehr zum vollständigen Regelbetrieb diskutieren.» Noch gebe es dazu aber «keine gesicherten Erkenntnisse», sagte sie der «Neuen Osnabrücker Zeitung». News4teachers / mit Materiall der dpa

Hochschulmediziner warnen

BERLIN. Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) und renommierte Hochschulmediziner haben davor gewarnt, die Gefährlichkeit der Covid-19-Erkrankung zu unterschätzen. Vertreter mehrerer Unikliniken zogen am Dienstag Zwischenbilanz – zwei Monate nach Gründung eines Netzwerks der deutschen Hochschulmedizin zum Austausch von Behandlungsverfahren und Patientendaten in der Corona-Pandemie. Ende März hatten die Universitätskliniken einen entsprechenden Austausch vereinbart.

“Nicht mit zu spaßen”: Bundesbildungsministgerin Anja Karliczek. Foto: Bundesregierung / Guido Bergmann

Es handele sich bei Covid-19 nicht um eine klassische Lungenentzündung wie bei einer Grippe, sagte Michael Albrecht, Medizinischer Vorstand des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus in Dresden. Die Erkrankung stelle etwas Besonderes dar und sei «höchstkomplex». Das hätten viele Fälle mit schwerkranken Patienten in den vergangenen Wochen an den Kliniken gezeigt. Bei Patienten mit schweren Verläufen träten Erkrankungen des zentralen Nervensystems, des Rückenmarks oder der Gefäße auf. Es komme sogar zu vorübergehenden Querschnittslähmungen oder auch zu Organversagen von Niere und Leber.

«Es ist so gut organisiert und so gut gemacht worden in den letzten Wochen, dass der Blick auf diese grässlichen Folgen und Auswirkungen nicht nur für Einzelne sondern für ganze Gesellschaftsschichten verloren gegangen ist», sagte Albrecht mit Blick auf die Kritik an den Anti-Corona-Maßnahmen.

Die Pandemie sei kein Hirngespinst, sondern eine reale ernsthafte Bedrohung, sagte Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU). «Mit dieser Krankheit ist definitiv nicht zu spaßen, und je mehr wir über sie lernen, umso deutlicher wird das.» Sie rief dazu auf, die Abstands- und Hygieneregeln weiter einzuhalten. dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

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