DÜSSELDORF. Die kurzfristig anberaumte Öffnung der Grundschulen ohne die bisher geltende Abstandsregel nur zwei Wochen vor den Sommerferien sorgt in Nordrhein-Westfalen weiter für Unmut. Wie groß der Ärger in den Kollegien ist, hat der VBE jetzt dokumentiert – mit einer Sammlung von Statements, in denen Lehrerinnen und Lehrer sowie Schulleitungen (vom Verband anonymisiert) berichten, was diese Entscheidung für sie bedeutet. „Das ständige Hin und Her sorgt für viel Unruhe, Frust, Enttäuschung und Unsicherheit vor Ort. Leider erreicht der Ärger der Eltern aber immer wieder diejenigen, die für die schlechte Organisation und für die chaotischen Verhältnisse nicht verantwortlich sind“, so schreibt zum Beispiel eine Schulleiterin. Wir bringen Auszüge aus den Schreiben.
“Alles wieder umgeschmissen”
„Ich habe Onlineunterricht vorbereitet, mit besorgten Eltern telefoniert, Pläne gemacht, Lernvideos gedreht und ins Netz gestellt… definitiv hatte ich mehr Arbeit als sonst. Mit der teilweisen Öffnung und der Mischung aus Präsenz- und Distanzunterricht kam gerade so etwas wie Routine auf, auch die Eltern fühlten sich gut. Jetzt wird alles wieder umgeschmissen.“
“Angst vor der Ansteckung”
„Nach dem ersten Tag (gemeint ist der Montag, an dem wieder alle Grundschüler unterrichtet wurden, d. Red) bin ich kaputt und müde. Gemischte Gefühle bestehen immer noch: Glücklich, alle Kinder gesehen zu haben und trotzdem Angst vor der evtl. Ansteckung. Viele Regeln galt es nun, wieder neu zu bedenken. Die Kinder haben sich gefreut und hatten aber auch viele Sorgen wegen der Ansteckungsgefahr. Ein großer Teil vermisste die Zeit, als wir immer nur mit der Hälfte im Raum saßen, weil sie es entspannter fanden, als die Klassenlehrerin viel mehr Zeit für sie hatte und sie besser lernen konnten.“
“Wir verlieren diese Sicherheit wieder”
„Ich habe Gruppen eingeteilt. Ich habe mich mit Kolleginnen und Kollegen abgesprochen, um möglichst unterschiedliche Unterrichtszeiten von Geschwisterkindern zu vermeiden, damit Eltern entlastet werden. Ich habe Gruppen neu eingeteilt und mich neu abgesprochen, da kurzfristig neue Informationen vom Ministerium kamen. Und dann habe ich nochmal neue Gruppen eingeteilt…Ich habe über Erfahrungen und Gefühle in dieser schwierigen Zeit gesprochen. Ich habe versucht Ängste zu nehmen. Ich habe versucht Kindern durch schulische Angebote zu helfen, die Zuhause keine Unterstützung bekommen konnten. Ich habe Hygiene- und Abstandsregeln eingeübt. Ich habe unzählige Male mit den Kindern Hände gewaschen. Ich war gerührt davon, wie ernst die Kinder unsere Regeln nehmen. Ich habe gesehen, wie die Kinder sehr verantwortungsvoll mit der Situation umgehen und ihr Möglichstes tun, um Abstand zu halten. Ich habe Kinder (und Eltern und Lehrkräfte) erlebt, die durch die Regeln und Verhaltensweisen, die wir eingeübt haben, Sicherheit gewonnen haben. Durch die neuen Vorgaben des Ministeriums verlieren wir diese Sicherheit wieder!“
“Warum sollen wir Versuchskaninchen sein?”
„Die Arbeit und Mühe der letzten Wochen wird uns gedankt, indem wir nun in eine Schulsituation geschickt werden, deren gesundheitliches Risiko nicht einzuschätzen ist. Ohne Schutzkleidung, ohne Abstandsregeln, ohne Spuckschutz, ohne regelmäßige Tests. Ich denke, dass diese schnelle Wiederaufnahme des gesamten Schulbetriebs in der Grundschule mit den neuen Vorschriften den jetzt noch geltenden Regelungen so sehr widerspricht, dass ich dies nicht glaubwürdig den Schülerinnen und Schülern vermitteln kann. Warum können auf einmal alle wieder im großen Klassenverband unterrichtet werden ohne Mund-Nasen-Schutz und ohne Abstandsregelung? Warum sollen die Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer die Versuchskaninchen sein? Geht es hier wirklich 10 Schultage vor den Sommerferien noch um Beschulung oder doch mehr um die Betreuung der Kinder.“
“In Schockstarre”
„Als vorgestern die Schulmail versendet wurde (mit der Ankündigung der Schulöffnungen ohne Abstandsregel in vier Arbeitstagen, d. Red.), waren wir im Kollegium zunächst einmal wie unter einer ‚Schockstarre‘ und dann kamen Äußerungen: ‚Ist das ein Witz?‘ Ich selbst habe meinen Unmut und meine großen Bedenken hinsichtlich des nicht mehr einzuhaltenden Infektionsschutzes für uns als Lehrer wie auch für die Schüler bei meiner Schulleiterin kundgetan. Genauso empfinden fast alle meine Kolleginnen und Kollegen auch.“
Kurz vor der Pension
„Ich gehe mit dem Ende dieses Schuljahres in Pension. Nach dem Erlass, dass ab 3.6. nur Personen mit Vorerkrankungen als Risikogruppe gesehen werden, habe ich meinen Dienst in meiner 4. Klasse nach Absprache mit meinem Hausarzt wieder aufgenommen. An unserer Schule gibt es ein ausgeklügeltes Hygiene-System, das von allen beachtet wurde und sich als praktikabel erwies und bis Schuljahresende ausgerechnet war. (An jedem Tag hat ein anderer Jahrgang Präsenzunterricht, in zwei Gruppen, MNS-Pflicht, Händewaschen, geteilter Pausenhof, gestaffelte Pausenzeiten…) Unter diesen Bedingungen sah mein Arzt wenig Risiko. Zwei Tage war dieser Erlass gültig. Nun soll ich plötzlich den ‘normalen’ Unterricht erteilen. Schutzmaßnahmen sind offiziell nicht mehr vorgesehen und in diesem Rahmen auch nicht mehr durchführbar.“
“Zeit und Arbeit – für nichts”
„SchulleiterInnen und Kollegien tun seit März ihr Bestes, um diese Entscheidungen immer bestmöglich umzusetzen. Und trotzdem werden sie wieder und wieder verarscht, indem Regelungen einfach um 180 Grad gedreht werden. Hygiene und Abstände? Ja – unbedingt! Also werden Tische gerückt, Klassen geteilt und Pläne erstellt. Kaum läuft dieses System rund, heißt es, Hygiene und Abstände? Nein, nicht im Klassenverband. Wofür also die ganze wertvolle Zeit und Arbeit, die im Vorfeld geleistet wurde? Für nichts!“
“Völlig entnervt”
„Ich bin fassungslos, erschüttert, wütend, traurig und völlig entnervt. Schulpolitik in NRW war immer schon der Versuch am lebenden Kind. Dieses Rumprobieren wird mit der Schulöffnung ohne jegliche Abstandswahrung und ohne Einhaltung der bisher erarbeiteten Hygieneregeln auf die Spitze getrieben. Die Lehrkräfte fühlen sich als Probanden einer groß angelegten Feldstudie zur Verbreitung des Coronavirus.“
“Positiver Effekt nicht ersichtlich”
„So sehr ich mir auch wünsche, dass unsere Schüler wieder normal lernen, so abstrus scheint mir die jetzige Regelung. Eltern, SuS sowie die Lehrkräfte, die OGS-Mitarbeiter; alle haben sich auf die aktuelle Situation eingestellt, Konzepte entwickelt, Eltern dies mit Arbeitgebern geregelt etc.. Und nun wird dies wieder für nur zwei Wochen Normalbetrieb über den Haufen geworfen. Die zwei Wochen Dauerunterricht werden diese Unruhe, in Schule und Familien, nicht aufwiegen können. Der positive Effekt ist mir nicht ersichtlich.“
“Wie stehen wir als Schulleiter da?”
„Gern hätte ich diese Lösung jetzt für den Start nach den Sommerferien erfahren. Dann hätte man genügend Zeit, alles zu planen. Die kurzfristige Umsetzung macht m. E. keinen Sinn. Zumal das Ministerium vor einigen Wochen einen Plan im rollierenden System bis zu den Sommerferien gefordert hat, den wir natürlich den Eltern mitgeteilt haben. Jetzt müssen wir diese Informationen revidieren. Wie stehen wir als Schulleiter da?“
“Schule wird zum großen Viren-Pool”
„Kinder sind vielleicht nicht besonders gefährdet (man weiß es ja nicht) aber Lehrer*innen, die -aufgrund benötigter Pausenaufsichten oder Einsatz mehrerer Lehrkräfte in einer Klasse (Teilzeitbeschäftigung) durch die Kohorten ‘hüpfen’ müssen, ganz sicher. In kaum einer Schule wird es zu organisieren sein, dass die Lehrkräfte nur auf Kinder einer einzigen Klasse treffen und damit ist die ‚tolle’ Idee ‚konstanter Lerngruppen‘ ad absurdum geführt und die komplette Schule ein großer Viren-Pool. Leider mal wieder nicht zu Ende gedacht.“
Schulleiter-Posten? Nein danke
„Die Schulleitungsmitglieder müssen sich seit Monaten immer wieder den neuen Herausforderungen stellen. Viele Lehrkräfte, die sich haben vorstellen können, später eine Schule zu leiten, sind durch die Erfahrungen abgeschreckt und werden sich vorerst nicht auf so eine Stelle bewerben.“ (In Nordrhein-Westfalen ist der Schulleitungsmangel besonders groß – zu Schuljahresbeginn waren laut Statistik des Schulministeriums landesweit 457 Schulleiterposten vakant, davon allein an 250 an Grundschulen; das ist etwa jede zehnte Grundschule, d. Red.) News4teachers
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