Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek
MÜNCHEN. Man glaubt es kaum. Bayern ist – ein gutes halbes Jahr nach Beginn der Corona-Krise – wirklich das erste Bundesland, das jetzt einen konkreten Plan vorgelegt hat, wie es im kommenden Schuljahr mit den Schulen in der Pandemie umgehen wird. Grenzwerte bei den aktuellen Neuinfektionen festzulegen, ab wann welche Einschränkungen im Schulbetrieb (wieder) gelten, das hat noch kein Kultusministerium zuwege gebracht – außer eben dem bayerischen.
Dass Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) bei den Schulen auf die Bremse trat, als andere ihre Kitas und Grundschulen bereits wieder weit geöffnet hatten, passt ins Bild. „Schön wäre ein Regelbetrieb“, sagte Söder noch Ende Mai. “Vielleicht geben es die Infektionszahlen auch her.” Falls nicht, müsse man weiterhin Maßnahmen ergreifen. Eine Prognose zum Start des neuen Schuljahres sei aber noch nicht möglich. Söder mahnte deshalb immer wieder zur Vorsicht. Wenn man nicht wisse, was einen erwarte, sei es klüger, Schritt für Schritt zu gehen, statt ins Ungewisse zu springen.
Andere springen lieber und setzen – zumindest öffentlich – allein auf das Prinzip Hoffnung. Bei der Kultusministerkonferenz (KMK) liest sich das dann so: „Zur Gewährleistung des Rechts auf Bildung von Kindern und Jugendlichen streben die Länder an, dass alle Schülerinnen und Schüler spätestens nach den Sommerferien wieder in einem regulären Schulbetrieb nach geltender Stundentafel in den Schulen vor Ort und in ihrem Klassenverband oder in einer festen Lerngruppe unterrichtet werden.“
Lehrer, Schüler und Eltern lassen sich nicht für dumm verkaufen
Ausbrüche? Kommen im Konzept der KMK nicht vor. Dabei beginnt schon am Montag im ersten Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern, das Schuljahr 2020/2021, und die Infektionszahlen in Deutschland steigen seit vergangener Woche wieder. Man muss Lehrer, Schüler und Eltern schon für sehr beschränkt halten, wenn man glaubt, sie beruhigen zu können, indem man offenkundige Herausforderungen einfach verschweigt.
Vertrauen ist in der Krise die Währung, auf die es ankommt. München setzt mit seinem gestern vorgelegten Konzept (News4teachers berichtet darüber ausführlich, und zwar hier) den Maßstab, an dem sich ab sofort andere Landesregierungen zu messen haben. Das Vorgehen der Regierung aus CSU und Freien Wählern sorgt bei Lehrern, Schülern und Eltern für Transparenz – und schafft damit die Grundlage für das Vertrauen, dass im Notfall auch wirklich getan wird, was getan werden muss. Die Landesregierung macht sich verantwortlich, weil die Kriterien ihres Handelns für jedermann klar sind. Und: Sie distanziert sich damit von dem Märchen, dass Kinder nicht infektiös seien und Schulen deshalb keine Rolle im Infektionsgeschehen spielen könnten, mit dem so manche Bildungsminister wie Quacksalber, die auf Jahrmärkten ihre Wundermedizin anpreisen, durch die Lande tingeln.
„Zwischen eins und zehn ist kaum ein Ansteckungsrisiko vorhanden“, behauptet etwa die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP). „Die letzte Studie, die wir in diesem Zusammenhang gesehen haben, ist die Studie aus Sachsen, aus Dresden, wo mehrere Tausend Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte getestet worden sind, und die hat nochmal ganz eindeutig bestätigt, was alle anderen Studien bisher auch bestätigt haben, dass das Infektionsgeschehen gen null läuft in dieser Alterskohorte.“
Sind Schüler kaum von Corona-Infektionen betroffen?
Mit einer ähnlichen Beruhigungsstrategie (oder Ignoranz?) ist der Hamburger Bildungssenator Ties Rabe (SPD) unterwegs. Noch in dieser Woche erklärte er im NDR: „Das ist zwar wissenschaftlich nicht bis ins Letzte ausgeleuchtet, das gebe ich allen zu, aber die meisten Wissenschaftler sind sehr klar in der Auffassung, dass das ganz anders ist als bei der Spanischen Grippe, die man früher immer mit Corona gleichgesetzt hat.“ Die Spanische Grippe habe vor allem Kinder und Jugendliche betroffen. „Und hier ist es genau umgekehrt“, meint Rabe. „Das Infektionsgeschehen bei Kindern und Jugendlichen kann nicht gleichgesetzt werden in seinen Auswirkungen mit dem, was bei Erwachsenen passiert. Das ist ein Momentum, das man berücksichtigen muss in dem Abwägungsprozess, vor dem jetzt die Politik steht.“
Zuvor hatte sich Rabe sogar zu der Aussage verstiegen, dass die Schulschließungen ab März eigentlich gar nicht notwendig gewesen seien – und dass man in Zukunft wohl anders entscheiden werde. Futter für alle Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker.
Doof nur, dass Rabes „Momentum“ so gar nicht existiert, wie ein einziger Blick auf die Homepage des Robert-Koch-Instituts (RKI) erkennen lässt. „In serologischen Studien, welche überstandene Infektionen anhand von Antikörpernachweisen abbilden sollen, zeigt sich kein einheitliches Bild: teils hatten Kinder ähnliche Seroprävalenzen wie Erwachsene, teilweise zeigte sich bei Kindern unter 10 Jahren im Vergleich eine niedrigere Seroprävalenz.“ Heißt: Es ist nicht nur „wissenschaftlich nicht bis ins Letzte ausgeleuchtet“, dass Kinder kaum von Infektionen betroffen sind, wie Rabe beschwichtigend sagt. Es ist höchst umstritten.
Mehr noch: Das RKI warnt ausdrücklich davor, die Untersuchungen, die Kindern mehr oder weniger Immunität bescheinigen, überzubewerten. Wörtlich heißt es: „Da die Studien meist während oder im Anschluss an Kontaktbeschränkungen bzw. Lockdown-Situationen durchgeführt wurden, ist die Übertragbarkeit auf den Alltag begrenzt.“
In Schulen werden selten Fledermäuse oder Schlangen zubereitet
Es könnte nämlich gut sein, dass die behauptete Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber dem Coronavirus lediglich auf geringere Ansteckungszahlen durch verminderte Sozialkontakte während der Kita- und Schulschließungen zurückzuführen sind. Auch der Hinweis, aus den weiten Schulöffnungen vor den Sommerferien hätten sich ja keine Corona-Ausbrüche ergeben, ist kaum ernstzunehmen. Da in Schulen selten Fledermäuse oder Schlangen zubereitet werden, ist ein Entstehen des Virus dort tatsächlich nicht zu erwarten. Wenn das Infektionsgeschehen außerhalb der Schulen ruhig ist, wird es das logischerweise auch innerhalb der Schulen sein. Die entscheidende Frage ist: Was passiert im Herbst?
Es gibt jedenfalls keinen wissenschaftlichen Befund, aus dem sich schließen ließe, wie sich die jetzt anstehenden Schulöffnungen auf das Pandemiegeschehen in Deutschland auswirken werden – und schon gar nicht, was passiert, wenn Infektionen in größerer Zahl in die insgesamt mehr als 32.000 Schulen in Deutschland hineingetragen werden. Zumal Jugendliche, die Rabe ja mal eben mit Kindern gleichsetzt, durch ihr extrovertiertes Sozialverhalten sogar als potenzielle Superspreader gelten.
Diesen Umständen trägt das bayerische Kultusministerium mit seinem Pandemieplan für die Schulen jetzt Rechnung. Höchste Zeit für die anderen Landesregierungen, sehr schnell nachzuziehen – und endlich damit aufzuhören, Schüler, Eltern und Lehrer für dumm zu verkaufen. News4teachers
Der Journalist und Sozialwissenschaftler Andrej Priboschek beschäftigt sich seit 25 Jahren professionell mit dem Thema Bildung. Er ist Gründer und Leiter der Agentur für Bildungsjournalismus – eine auf den Bildungsbereich spezialisierte Kommunikationsagentur, die für renommierte Verlage sowie in eigener Verantwortung Medien im Bereich Bildung produziert und für ausgewählte Kunden Content Marketing, PR und Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Andrej Priboschek leitete sieben Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen.
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