MAINZ. Erstmals in der Corona-Krise hat ein Kultusministerium in einer Pressemitteilung Kritik am Kurs der weit offenen Schulen zugelassen – allerdings nicht freiwillig. Nachdem in einer ersten Veröffentlichung des rheinland-pfälzischen Bildungsministeriums zu einer Expertenanhörung Zitate frei erfunden worden waren, hatte es massiven Ärger gegeben. Die Erklärung musste zurückgezogen werden. Jetzt ist eine neue erschienen – mit nunmehr abgestimmten Stellungnahmen. „Wir sehen, dass es auch in Schulen zu Übertragungen, zu Superspreader-Events kommen kann“, betont darin Dr. Jana Schroeder, Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie der Stiftung Mathias-Spital in Rheine.
In der ursprünglichen Pressemitteilung des rheinland-pfälzischen Bildungsministeriums, herausgegeben unmittelbar nach der Expertenanhörung am 7. Dezember, hieß es: „Am Montagabend hatte das Bildungsministerium gemeinsam mit dem Landeselternbeirat zu einer Expertenanhörung geladen. Im Anschluss an die Veranstaltung erklärte die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Dr. Stefanie Hubig: ‚Die Expertenanhörung hat noch einmal verdeutlicht, welchen Stellenwert die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen genießt und genießen muss. Schulen sind keine Treiber der Pandemie – das Tragen der Maske sowie die Einhaltung der Hygiene- und Lüftungsregeln sind und bleiben zentral – hier war sich die Mehrheit der Expertinnen und Experten sehr einig.‘“
Kekulé hatte sich allerdings nur Tage zuvor ganz anders geäußert – wie News4teachers berichtete. An weiterführenden Schulen gebe es schwerste Ausbrüche. Jugendliche Schüler seien „ganz starke Treiber der Pandemie. Das ist ohne Wenn und Aber erwiesen“, so erklärte er in einem Interview mit dem Sender Phoenix. Und tatsächlich schrieb er dann an das Bildungsministerium: „Die beiden Sätze sind nicht von mir. Bitte nur zitieren, was ich tatsächlich gesagt habe.“
Auch andere Experten forderten, die ihnen zugeschriebenen Statements zurückzuziehen. Eine Erklärung aus dem Bildungsministerium zu dem Treffen sei „mehr oder weniger reine Propaganda statt ernsthafter inhaltlicher Auseinandersetzung mit dieser Problematik“, befand etwa der Leipziger Epidemiologe Prof. Markus Scholz. Der Fall, den News4teachers bundesweit öffentlich machte, schlug Wellen – Hubig musste sich im Mainzer Landtag entschuldigen. Und nun hat ihre Pressestelle eine neue Pressemitteilung zu der Veranstaltung herausgegeben, in der erstmals mit der Absenderadresse eines deutschen Kultusministeriums überaus kritische Töne zur Politik der weit offenen Schulen zu lesen sind.
Warum die RKI-Empfehlungen für Schulen nicht gelten sollen, “erschließt sich mir nicht”
Dr. med. Jana Schroeder, Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie der Stiftung Mathias-Spital in Rheine, erklärt darin: „In der Zusammenschau und Bewertung aller vorliegenden Daten zur Infektiosität von Kindern kann man nicht schließen, dass diese keine Rolle im Infektionsgeschehen haben. In der Pandemie gibt es führende Wissenschaftliche Institutionen, die unter anderem genau für den Fall einer Pandemie eingerichtet wurden, um Empfehlungen und Vorgaben zu Verhalten zu erarbeiten. Die Krankenhäuser vertrauen auf diese und stehen in der Pflicht, die Vorgaben des RKI umzusetzen – warum dies nicht für die restliche Bevölkerung, bzw. für andere Institutionen gelten soll, erschließt sich mir nicht. Wir sehen, dass die Anzahl der Neuinfektionen trotz veränderter Teststrategie und dem aktuellen ‚Lockdown‘ nicht adäquat sinken und wir sehen auch, dass es auch in Schulen zu Übertragungen, zu Superspreader-Events kommen kann. Selbst wenn das Infektionsgeschehen an Grundschulen geringer sein sollte als in der Restbevölkerung, kann auch dies keine Argumentation für weniger Schutzmaßnahmen sein – die Anschnallpflicht gilt auch schon bei Tempo 30 und nicht erst bei 100 km/h.“
Hintergrund: Das RKI empfiehlt für die Schulen ab einem Inzidenzwert von 50, Wechselunterricht mit kleinen Lerngruppen vorzusehen, damit die Abstandsregel gelten kann, sowie eine generelle Maskenpflicht im Unterricht. Das Bildungsministerium von Rheinland-Pfalz beachtet (wie alle anderen Kultusministerien in Deutschland) diese Empfehlung nicht.
Prof. Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie an der Universität Leipzig, stellt nun klar: „Im Vergleich zur ersten Welle im Frühjahr sehen wir in der zweiten einen deutlichen, qualitativen Unterschied nämlich, dass die Altersgruppe 0-15 jetzt wesentlich stärker betroffen ist. Auch unter Berücksichtigung geänderter Teststrategien lässt dies auf ein verstärktes Infektionsgeschehen im Schul- bzw. Kitakontext schließen. Es wurden zudem bereits Hunderte von Ausbrüchen an Schulen gemeldet, teilweise auch mit beträchtlichen Clustergrößen, wie z. B. in Sachsen. Es ist zu befürchten, dass wir dabei nur die Spitze des Eisbergs sehen, da Gruppen nicht mehr überall konsequent getestet werden – selbst bei Kategorie 1 Kontakten. Wenn zum Beispiel in Klassen mit einem Indexfall nur quarantänisiert aber nicht weiter getestet wird, erscheint dies in den Statistiken dann fälschlicherweise als ‚Beleg‘ für eine Nichtübertragung innerhalb der Klasse. Dies führt zu einer Verzerrung der Datenlage mit möglichen Fehleinschätzungen der tatsächlichen Problematik.“
Landesgesundheitsamt behauptet: Kinder stecken sich allermeistens in den Familien an – nicht in Kita oder Schule
Auch das Landesuntersuchungsamt kommt in der neuen Pressemitteilung zu Wort – mit der auch vom Ministerium vertretenen These, dass die Ansteckungsgefahr in Kitas und Schulen vergleichsweise gering sei. Dies zeige die Studie „Secondary Attack Rate in Schools Surveillance“ der Gesundheitsämter in Rheinland-Pfalz. „Vergleicht man die Übertragungssituation für die Kinder zu Hause mit der in der Schule oder Kita zeigt die Erfahrung von 232 Fällen und 8.371 Kontaktpersonen, dass sich trotz beengter Verhältnisse in den Klassenräumen bei Auftreten eines COVID-Falles nur eines von hundert Kindern im direkten Umfeld ansteckt. Innerhalb der Familie ist eine Übertragung zwanzigmal wahrscheinlicher und betrifft jedes fünfte bis sechste Familienmitglied“, meint Amtsleiter Prof. Philipp Zanger.
Scholz hält dem allerdings entgegen: „Es ist zu befürchten, dass wir dabei nur die Spitze des Eisbergs sehen, da Gruppen nicht mehr überall konsequent getestet werden – selbst bei Kategorie 1 Kontakten. Wenn zum Beispiel in Klassen mit einem Indexfall nur quarantänisiert aber nicht weiter getestet wird, erscheint dies in den Statistiken dann fälschlicherweise als ‚Beleg‘ für eine Nichtübertragung innerhalb der Klasse. Dies führt zu einer Verzerrung der Datenlage mit möglichen Fehleinschätzungen der tatsächlichen Problematik.“ Aktuell, so der Epidemiologe, lägen in Deutschland nur einige wenige wissenschaftliche Studien zum Infektionsgeschehen an Schulen vor – und die beruhten vor allem auf Daten der Niedriginzidenzphase. Sie ließen sich nicht einfach auf die aktuelle Situation verallgemeinern.
Scholz: „Wir brauchen deshalb dringend Studien, die das Infektionsgeschehen in Schulen und Kitas besser überwachen. Bei Indexfällen sollte die Kontaktgruppe stets konsequent getestet und die Ergebnisse für wissenschaftliche Auswertungen zugänglich gemacht werden, um das Geschehen besser einschätzen und die Wirksamkeit von Maßnahmen überprüfen zu können.”
Hubig spricht von einem “Fehler” – ohne darauf einzugehen, dass dahinter offensichtlich Vorsatz steckt
Die Pressestelle und die Ministerin bemühen sich derweil, die falschen Zitate als einfache Panne erscheinen zu lassen. Hubig sprach im Landtag von einem „Fehler“ – ohne darauf einzugehen, dass sie auch als KMK-Präsidentin eine verzerrende Pressemitteilung über eine Expertenanhörung im September zu verantworten hat, wie Recherchen von News4teachers ergaben.
„Um die Öffentlichkeit schnell zu informieren“ sei die ursprüngliche Pressemeldung zur Expertenrunde am 7. Dezember herausgegeben worden, so heißt es nun seitens der Pressestelle. „Diese stellte jedoch nicht die gesamte zweistündige Diskussion dar, sondern war auf die aus Sicht des Bildungsministeriums zentralen Ergebnisse fokussiert und hat nicht die Breite der Meinungen wiedergegeben.“ Darauf, dass es ein übliches Verfahren ist, Zitate in Pressemitteilungen abzustimmen, geht sie nicht ein. Auch wird nicht eingeräumt, dass Statements frei erfunden worden waren. Stattdessen heißt es: „Die Pressestelle hat sich umgehend bei der Expertin und den Experten entschuldigt, soweit sich Sachverständige falsch zitiert gesehen haben, und dies korrigiert.“ Im Fall von Kekulé stimmt auch das nicht: Er taucht in der neuen Pressemitteilung überhaupt nicht mehr auf. News4teachers
Dieser Beitrag wurde mit Unterstützung der Leserinnen und Leser von News4teachers realisiert.
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