BERLIN. So, wie es gelaufen ist, hatte sich die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) ihre Präsidentschaft in der Kultusministerkonferenz (KMK) sicher nicht vorgestellt. „Als wir das Jahr begonnen haben, dachten wir, dass die Angleichung von Schulabschlüssen oder die wissenschaftliche Beratung unsere Hauptherausforderung sein würden“, sagt Hubig im Rückblick auf 2020. „Aber das hat sich dann ab dem 12. März schlagartig verändert.“ Jetzt, knapp neun Monate später, ist Deutschland wieder im Lockdown, das Schuljahr versinkt im Chaos und niemand weiß, wie es nach den Weihnachtsferien in den Schulen weitergehen wird. Und Hubig, die turnusmäßig von der Spitze der KMK abtritt, zieht Bilanz. Von Selbstkritik keine Spur.
Eine solch enge Zusammenarbeit wie in diesem Jahr habe sie in der KMK während ihrer fast fünfjährigen Amtszeit als Ministerin nie erlebt, meint Hubig im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Sonst haben wir uns dreimal im Jahr getroffen. Jetzt lässt sich kaum zählen, wie oft wir in Telefon- und Videoschalten beraten haben.“
Persönlich zusammengekommen sind die Kultusminister in den vergangenen Monaten wegen des Infektionsrisikos nicht, anders als rund elf Millionen Schüler und 800.000 Lehrkräfte in Deutschland, die Tag für Tag ohne die Abstandsregel im Unterricht auskommen müssen. Grundlage waren die Beschlüsse der KMK, über die Hubig sagt: „Wir haben die ganze Zeit über sehr konstruktiv miteinander gearbeitet, weil wir immer gute und tragfähige Entscheidungen treffen wollten, die möglichst viel Einheitlichkeit im Bundesgebiet ermöglichen.“
Die Kanzlerin hatte Hubig dazu gedrängt, Schwellenwerte für Schutzmaßnahmen in Schulen festzulegen – vergeblich
Von Einheitlichkeit beim Schulbetrieb in der Corona-Krise kann in Deutschland allerdings keine Rede sein. Gemeinsam ist den Bundesländern lediglich, dass sie die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) ablehnen, ab einem Inzidenzwert von 50 Wechselunterricht in kleineren Lerngruppen – und damit die Abstandsregel – sowie eine Maskenpflicht im Unterricht aller Jahrgänge vorzusehen.
Ansonsten macht jedes Kultusministerium, was es will: In Bayern galt die Maskenpflicht im Unterricht der Grundschulen bereits, als in Brandenburg lediglich Oberstufenschüler mit Mund-Nasen-Schutz in Klassenräumen behelligt wurden. In Baden-Württemberg ist die Schulpräsenzpflicht ausgesetzt – in Nordrhein-Westfalen werden selbst Schüler mit engen Angehörigen aus Risikogruppen nicht vom Unterricht befreit. Bayern sieht ab einem Inzidenzwert von 200 Wechselunterricht für alle Schulen eines betroffenen Stadt- oder Landkreises vor – Nordrhein-Westfalen hat genau das der Stadt Solingen bei einem Inzidenzwert von knapp 240 verboten. Baden-Württemberg wiederum schreibt Fernunterricht für ganze Städte oder Landkreise ab einem Inzidenzwert von 300 vor. Eine Begründung für die unterschiedlichen Maßstäbe gibt es nicht.
Bereits im August versuchte die Kanzlerin, gegen das Durcheinander in der Schulpolitik vorzugehen – und wurde von der KMK brüskiert. Angela Merkel (CDU) hatte nach Informationen von News4teachers auf einem informellen Schulgipfel mit Hubig und der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken um ein Konzept gebeten, in dem bundesweit geltende Stufen für Schutzmaßnahmen in Schulen festgelegt werden sollten. Schulschließungen beispielsweise sollten ab 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern und Woche innerhalb eines Landkreises oder einer Stadt erfolgen (wie es dann die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts vorsahen). Die KMK verabschiedete tatsächlich zwei Wochen später einen Vier-Stufen-Plan – allerdings: unverbindlich und ohne jegliche Schwellenwerte. Ein Papier ohne Substanz.
Bis heute gibt es keinen Plan B, wie der Schulbetrieb bei steigenden Infektionszahlenb aufrecht erhalten werden kann
Die Folge: Es gibt bis heute keinen Plan B für einen Schulbetrieb bei steigenden Infektionszahlen. Entschieden wird ad hoc, praktisch über Nacht, nach intransparenten Kriterien – und je nach politischer Ausrichtung der jeweiligen Landesregierung. Nicht einmal alternative Lehrpläne, mit denen ein Kerncurriculum bei großflächigem Unterrichtsausfall gesichert werden könne, haben die Kultusminister bislang vorgelegt. Unterdessen saßen Hundertausende von Schülern und Lehrern ohne Unterricht in Quarantäne fest. Das erste Treffen der KMK-Spitze mit Lehrer- und Elternverbänden, die solche Probleme besprechen wollten, fand Anfang November statt – neun Monate nach Beginn der Pandemie. Es blieb ohne Ergebnis.
Ohnehin zeichnet sich die Arbeit der KMK im Krisenjahr 2020 vor allem durch Versäumnisse aus. Schülertransport in übervollen Bussen und Bahnen? War nie ein Thema für die Kultusminister. Oder: Erst seit November veröffentlicht die KMK Daten zum Infektionsgeschehen an Schulen in Deutschland – zu spät und zu unsystematisch, um daraus Erkenntnisse für einen sicheren Schulbetrieb in der Pandemie zu ziehen. Die Digitalisierung der Schulen erwies sich, einmal mehr, als Luftnummer: Die Anschaffung von Laptops für alle Lehrer in Deutschland wurde von der KMK groß angekündigt – und musste dann von Hubig für das laufende Jahr abgesagt werden, weil es noch Beratungsbedarf mit dem Bund gebe.
Mit dem Thema Lüften beschäftigte sich die KMK erst mit einer Expertenanhörung am 23. September, unmittelbar nach dem kalendarischen Herbstanfang also – als es bereits empfindlich kalt wurde in den Klassenräumen. Den ganzen Sommer über waren die Kultusminister untätig geblieben. Dabei hatten Wissenschaftler bereits im Mai vor der Gefahr durch virenbelastete Aerosole in Klassenräumen gewarnt.
Über die Ergebnisse ihrer Expertenanhörung verbreitete die KMK dann auch noch die Unwahrheit. Mit Blick auf mobile Luftfilter hieß es in der Pressemitteilung, die im Anschluss an das Treffen herausgegeben wurde: „Die Wissenschaftler kamen überein, dass der Einsatz solcher Geräte grundsätzlich nicht nötig sei.“ Diese Darstellung ist nach Recherchen von News4teachers allerdings falsch. Der einzige anwesende Wissenschaftler, der zum Thema geforscht hat (Prof. Dr. Christian J. Kähler vom Institut für Strömungsmechanik und Aerodynamik an der Universität der Bundeswehr München) hält den Einsatz von Luftfiltern in Schulen sehr wohl für erforderlich – und hatte das den Kultusministern in der Runde auch so erklärt.
Zwei Punkte hat die KMK hervorgebracht: ein “Lüftungskonzept” – und eine Informationspolitik, die die Lage an den Schulen relativiert
So lassen sich nur zwei Punkte ausmachen, die die KMK während der Pandemie hervorgebracht hat: ein „Lüftungskonzept“ (wenn man eine Handreichung für Lehrer, die vorgibt, dass alle 20 Minuten für 3 bis 5 Minuten die Fenster zu öffnen sind, ein „Konzept“ nennen will) – und eine Informationspolitik, mit der das Infektionsgeschehen an Schulen durchgängig verharmlost wurde.
Darüber hat es erkennbar Absprachen gegeben. Alle Kultusministerien, die unter dem Druck der Öffentlichkeit Zahlen über infizierte Schüler und Lehrer sowie über Quarantäne-Betroffene herausgeben, tun das bis heute relativierend in Prozentwerten in Bezug auf Gesamtschüler- und -lehrerzahlen (um den weit offenen Schulbetrieb zu rechtfertigen), während die Landesregierungen die allgemeinen Infektionsdaten, die vergleichbar niedrige Prozentwerte ergeben würden, allein in absoluten Zahlen als gefährliche Entwicklung darstellen (um damit die Schließung von Geschäften und Freizeiteinrichtung zu begründen).
Es gibt keine einzige Stellungnahme der KMK – oder einzelner Kultusminister – zu Corona-Ausbrüchen an Schulen. RKI-Präsident Prof. Lothar Wieler machte im November öffentlich, dass es seit den Sommerferien bereits mehrere Hundert solcher Ausbrüche unter Schülern und Lehrern gegeben hatte. Mittlerweile 17 an Corona verstorbene Lehrer/Erzieher weist die Statistik des Robert-Koch-Institus aus (Stand: 27. Dezember).
In der persönlichen Jahresbilanz der scheidenden KMK-Präsidentin haben solche Schreckensmeldungen aber bis heute keinen Platz. Von der dpa nach ihrem „schönsten Erlebnis in dem aufregenden Jahr“ befragt, nennt sie die gewachsene Bedeutung von Bildung. „Der Stellenwert von Bildung wurde während der Corona-Pandemie so deutlich wie schon lange nicht mehr thematisiert. Kitas und Schulen sind zentrale Orte, nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch für die gesamte Gesellschaft“, sagt sie. Dabei bleibe ihr besonders die Entscheidung am 25. März in Erinnerung, die Abiturprüfungen während des ersten Lockdowns planmäßig stattfinden zu lassen.
Gemeinsames Minimalziel der Länderminister sei immer der Konsens gewesen. „Wir wollten ganz deutlich zeigen, dass der Bildungsföderalismus, der ja oft sehr kritisiert wird, auch funktioniert und dass wir gemeinsam richtige Entscheidungen treffen können.“ Daher habe sie die KMK in diesem Jahr auch nicht als 16 Einzelkämpfer empfunden – „wir waren bei allen Unterschieden des Infektionsgeschehens in den Ländern immer ein Team“.
Einig waren sich die Kultusminister tatsächlich schnell, die Corona-Krise als erledigt abzuhaken. So legte die KMK bereits im Juni fest, die Schulen nach den Sommerferien im Regelbetrieb zu öffnen – und dafür die Abstandsregel im Unterricht zu streichen. Schon damals gab es an diesem Beschluss massive Kritik seitens der Lehrerverbände. „Auf das Abstandsgebot in den Schulen zu verzichten, ist der falsche Weg“, erklärte seinerzeit die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. Abstand und Hygienemaßnahmen seien das A und O, um Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern vor Infektionen zu schützen. Der VBE warnte vor einem „Spiel mit dem Feuer“.
“Die Kultusminister haben die Situation nicht ernst genug genommen”, sagt der Chef des Realschullehrerverbands, Jürgen Böhm
Die KMK ließ sich von ihrem Kurs weit offener Schulen nicht abbringen. Die zweite Corona-Welle konnte ungebremst durch die Klassenräume rollen. „Die Kultusminister haben die Situation nicht ernst genug genommen“, sagte der Bundesvorsitzende des Verbands Deutscher Realschullehrer (VDR), Jürgen Böhm, unlängst in einem Interview mit News4teachers (hier geht es zu dem Gespräch).
„Ich habe immer darauf gehofft, dass Stufenpläne in Kraft gesetzt werden, die – je nach Infektionsgeschehen – einen geregelten Ablauf erlauben. Aber man hat sich ja völlig von Inzidenzwerten entfernt, die irgendetwas nach sich ziehen. Es war für mich wirklich ein Schock, dass man die RKI-Empfehlungen verworfen hat. Das ist für mich kaum nachvollziehbar”, meinte Böhm. “Ich kann es mir nur so erklären, dass das Infektionsgeschehen, dass sich das Coronavirus so schnell ausbreitet, alle Kultusminister überrascht hat. Der Schuss geht nach hinten los, wenn man jetzt in hoch infektionsbelasteten Gebieten die Schulen weiterhin offenhält. Man reagiert ja nur punktuell. Ich wünsche mir hier eine klare Linie, mit klaren Vorgaben. Wir haben die Instrumente, die heißen: Maskenpflicht, Abstandsregel, Hybridunterricht. Man muss sie aber zum Einsatz bringen.”
Hubig lenkt den Blick derweil lieber auf andere Themen. So sehr ihre KMK-Präsidentschaft auch von Corona dominiert worden sei, habe die Runde doch auch „alles abgearbeitet, was wir uns für dieses Jahr vorgenommen haben“. Hubig nennt eine Empfehlung zur Europabildung, die besonders auch die berufliche Bildung in den Blick nimmt, ebenso wie eine im Oktober beschlossene Vereinbarung der Länder für mehr Vergleichbarkeit, mehr Transparenz und mehr Qualität im Bildungswesen.
Hubig: “Mir macht Bildungspolitik sehr viel Freude, das ist eine ganz tolle Aufgabe”
Ansonsten aber rückt für sie jetzt Rheinland-Pfalz in den Fokus, wo am 14. März 2021 ein neuer Landtag gewählt wird. Wie wird es dann mit Stefanie Hubig weitergehen? „Mein Plan ist, dass ich mich am 18. Mai darüber freue, dass Malu Dreyer wieder Ministerpräsidentin ist“, antwortet sie mit Blick auf den Beginn der nächsten Legislaturperiode. „Mir macht Bildungspolitik sehr viel Freude, das ist eine ganz tolle Aufgabe und sehr erfüllend. Am Ende werden andere entscheiden, wie es weitergeht.“ Vor allem die Wähler. Die Mehrheit für die regierende Ampelkoalition ist laut Umfragen hauchdünn.
Wie weit sich die KMK unter Hubigs Ägide von der Realität in den Schulen entfernt hat, zeigt ein Blick auf die Homepage der Organisation. Top-Meldung vom 27. Dezember: „Die UNESCO hat heute das Bauhüttenwesen in das Register guter Praxisbeispiele zum Erhalt Immateriellen Kulturerbes aufgenommen.“ In acht Tagen, am 4. Januar, steht das vorbereitende Treffen der KMK zum Bund-Länder-Gipfel am Tag darauf statt, bei dem über den weiteren Schulbetrieb entschieden werden soll – eine Schicksalsfrage für Deutschland. Dazu findet sich auf der Seite kein Wort. News4teachers / mit Material der dpa
