ERFURT. Die CDU in Ostdeutschland geht beim Corona-Schutz für Schulen in offene Opposition zur Bundesregierung – offenbar getrieben von der AfD. Die Thüringer Landtagsfraktion der Christdemokraten hat einen Plan vorgelegt, mit dem Präsenzunterricht bei jeder Corona-Inzidenz möglich sein soll, sogar ohne Maskenpflicht im Grundschul-Unterricht. Zuvor hatte Sachsens Kultusminster Christian Piwarz (CDU) davor gewarnt, dass der Bund mit der geplanten Corona-Notbremse für den Schulbetrieb die Bildungshoheit der Länder gefährde.
Wissenschaft? Braucht im rechten Lager offenbar niemand. Beim Bundesparteitag der AfD am Wochenende in Dresden wurde eine Resolution verabschiedet, die Corona – wie zuvor schon den Klimawandel – als weitgehend unproblematisch beschreibt. Nur 0,18 Prozent der Bevölkerung seien positiv getestet worden, weshalb Freiheitsbeschränkungen für die übrigen 99,82 Prozent unverhältnismäßig seien, so heißt es laut n-tv in dem Beschluss. Mal davon abgesehen, dass die Gurtpflicht ja auch nicht nur für Unfallopfer gilt: Woher nimmt die AfD die behaupteten Daten? Das Robert-Koch-Institut weist völlig andere Zahlen aus. Danach wurden bislang mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland positiv auf das Coronavirus getestet (was 3,6 Prozent entspricht) – von denen mehr als 78.000 verstorben sind.
«Alle Jahrgangsstufen müssen endlich zurück in den Präsenzunterricht»
So genau will’s aber bei der AfD keiner wissen: Die Rechtsaußen-Partei fordert, nicht alle Menschen mit einem positiven PCR-Test als infiziert zu werten, sondern nur Erkrankte, deren Symptome ärztlich nachgewiesen wurden. Und die Warnungen der Fachwissenschaften, also der Virologen? Sind verzichtbar. Statt Wissen zählt Meinung. Die AfD fordert ein „unabhängiges Expertengremium“ zur Entscheidungsfindung, in dem „auch renommierte Wissenschaftler mit abweichender Meinung zum Umgang mit der derzeitigen Situation gleichwertig zu Wort kommen“ sollen. Anstelle einer „Politik der Angst“ solle die Bundesregierung, so die Resolution, Maßnahmen zur Stärkung des Immunsystems vorantreiben.
Darunter stellen sich die Delegierten der Rechtsaußen-Partei wahrscheinlich Vitaminbonbons vor (und wohl kaum Alkoholverzicht sowie viel Obst und Gemüse, wie Ärzte dazu raten). Was auch immer: Es hat auch schon dem (erkennbar übergewichtigen) AfD-Bundestagsabgeordneten Thomas Seitz nicht geholfen, der provozierend mit demonstrativ löchriger Maske im Parlament aufgetreten war – und schließlich Corona-infiziert auf der Intensivstation landete, wo in diesen Tagen ohnehin gut beschäftige Intensivmediziner nur mit großer Mühe sein Leben retten konnten. Zu einem Umdenken hat die Grenzerfahrung bei dem Abgeordneten allerdings nicht geführt. Er sei weiterhin der Auffassung, „dass bislang keine pandemische Lage vorliegt“, verlautete er nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. Daher halte er die staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen für unangemessen.
Das sieht auch die CDU in Thüringen so – in der Schulpolitik jedenfalls. «Alle Jahrgangsstufen müssen endlich zurück in den Präsenzunterricht», erklärte der bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Christian Tischner. Wohlgemerkt: “Müssen” – nicht “können”. In einem Positionspapier spricht sich die CDU-Fraktion für eine Corona-Testpflicht zweimal pro Woche für alle Schüler und Lehrer aus. Wer sein Kind nicht in der Schule testen lassen will, soll dies aber auch zu Hause machen können.
Außerdem sollte nach Meinung der CDU die Maskenpflicht im Unterricht auf Schüler ab der fünften Klasse begrenzt werden – statt für alle Klassenstufen zu gelten, wie dies die Landesregierung entsprechend der Empfehlungen des RKI geregelt hat. Die Thüringer Christdemokraten folgen mit ihrem Positionspapier nun der CDU-geführten Landesregierung im benachbarten Sachsen, die angekündigt hat, Schulen und Kitas bei jedem Infektionsgeschehen offenzuhalten, wie News4teachers berichtet. In Sachsen gilt nicht mal mehr die Abstandsregel in den Klassenräumen der Grundschule.
«Oberste Priorität hat die Öffnung aller Thüringer Schulen unabhängig von einem Inzidenzwert»
«Wir sind mittlerweile an einem Punkt angekommen, wo sich die Landesregierung die Frage gefallen lassen muss, wer die Verantwortung für dieses permanente Schulchaos übernimmt», ment Thüringens CDU-Fraktionschef Mario Voigt. Die ebenso naheliegende Frage, wer die Verantwortung für die höchsten Inzidenzwerte in Deutschland – aktuell mit einem Wert von 228 – und die nach Sachsen höchste Quote an Corona-bedingten Todesfällen (164 auf 100.000 Einwohner) übernimmt, stellt Voigt nicht. Die CDU ist hier durchaus in der Mithaftung: Die Linken-geführte Landesregierung verfügt über keine Mehrheit im Landtag und ist bei ihren Entscheidungen auf Unterstützung aus den anderen Fraktionen angewiesen.
Welch große Gefahr durch Infektionen in Innenräumen, auch Klassenräumen, besteht, hatte erst gestern die Gesellschaft für Aerosolforschung betont, wie News4teachers ausführlich berichtet. Die Thüringer CDU ficht das nicht an. Oberste Priorität habe «die Öffnung aller Thüringer Schulen unabhängig von einem Inzidenzwert», heißt es in deren Papier.
Damit stellt sich die CDU in Thüringen an die Seite ihrer Parteifreunde in Sachsen – und gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die einen Entwurf für ein Bundesgesetz vorgelegt hat, das eine Notbremse für den Schulbetrieb bei einem Inzidenzwert von (ohnehin schon großzügigen) 200 vorsieht. Auch Parteichef Armin Laschet verfängt mit seiner Idee eines „Brücken-Lockdowns“ bei seinen Leuten in Ostdeutschland augenscheinlich nicht. Schlechte Meinungsumfragen untergraben offenbar die Loyalität mit der Parteispitze: Die AfD ist in Sachsen laut dem Meinungsforschungsinstitut Civey im Auftrag der „Sächsischen Zeitung“ bei der Sonntagsfrage (“Wen würden Sie wählen, wenn…”) mit 29,6 Prozent an der CDU (27,3 Prozent) vorbeigezogen – und nun stärkste Kraft im Freistaat.
Dass die Thüringer CDU kein Problem damit hat, auch mit einem “Rechtsextremisten” (laut Bundesverfassungsschutz) wie dem Thüringer AfD-Chef Björn Höcke gemeinsame Sache zu machen, hat sie bereits vor gut einem Jahr mit der gemeinsamen Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten demonstriert. News4teachers / mit Material der dpa
