BERLIN. Es passiert nicht oft, dass sich eine Spitzenpolitikerin oder -politiker ohne Not aus der Politik zurückzieht, um wieder ein normales Leben zu führen – die FDP-Vize-Vorsitzende (und Vize-Chefin der Bundestagsfraktion) Katja Suding hat genau das für die Zeit nach der Bundestagswahl angekündigt. Bildungspolitik war für die 45-Jährige, die ihre politische Karriere in der Hamburger Bürgerschaft startete, immer ein Schwerpunkt. Wir sprachen mit ihr über die Schwachstellen, die die Corona-Krise schonungslos offengelegt hat – vor allem beim digitalen Lernen, auch bei den Lernplattformen für Schulen.
News4teachers: 2015 wurden Sie Vizechefin der Bundes-FDP, 2017 wurden Sie in den Bundestag gewählt. Nun haben Sie angekündigt, sich aus der Politik zurückzuziehen und zur nächsten Wahl nicht wieder anzutreten. Gibt es ein Projekt, das Sie gerne noch mit umgesetzt oder abgeschlossen hätten?
Katja Suding: Natürlich gibt es eine ganze Menge Dinge, die ich gerne noch umgesetzt hätte. Zwei Sachen vielleicht insbesondere: Zum einen die Modernisierung des Bildungsföderalismus. Da haben wir ja in der laufenden Legislaturperiode das Grundgesetz geändert und eigentlich hätte ich mir noch mehr Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern gewünscht. Zum anderen wäre ich gerne noch weitergekommen beim Thema digitale Bildung. Gerade Corona hat gezeigt, dass wir hier längst nicht so weit sind, wie wir es sein müssten und könnten.
News4teachers: Sie hatten ganz zu Beginn der Corona-Pandemie gesagt, dass es ein bundesweites Unterrichtsdesaster sei. Was hat Sie besonders schockiert?
Suding: Dass wir Probleme im Bereich der Digitalisierung haben, wusste auch schon vor Corona jeder, der Kinder oder Lehrer in seinem Umfeld hat. Die Umstellung auf den Distanzunterricht hat dementsprechend nicht überall geklappt – auch wenn es viele positive Beispiele gibt. Trotzdem hat mich das Ausmaß überrascht: An vielen Schulen ist der Unterricht erstmal komplett und über Wochen ausgefallen. Es gibt nun eine Studie der Goethe Universität Frankfurt, die das nochmal bestätigt hat: Der Distanzunterricht war für die Kinder im Prinzip so wie die Sommerferien, ohne Lernzuwachs oder sogar mit Lernrückschritten. Forscher aus München haben vorgerechnet, dass dies Auswirkungen auf das gesamte Leben der Kinder haben wird, bezogen auf das Arbeitsleben rechnen sie mit Einkommenseinbußen von durchschnittlich vier Prozent. Für viele Kinder waren diese Schulschließungen gravierend. Und ich kann bisher leider nicht erkennen, dass man die Erfahrungen aus dem ersten Lockdown dazu genutzt hat, bestehende Probleme anzugehen.
News4teachers: Jetzt sind in den meisten Bundesländern Sommerferien. Welche Probleme könnten oder müssten jetzt angegangen werden?
“Es gibt noch nicht überall Luftfilter, die ja den Unterricht in der ganzen Zeit möglich gemacht hätten”
Suding: Wir haben immer noch Probleme mit Lernmanagementplattformen, mit Datenschutz, mit der Ausbildung der Lehrkräfte. Die Klassenzimmer sind immer noch nicht alle pandemiefest, es gibt noch nicht überall Luftfilter, die ja nachweislich einen großen Teil der Aerosole aus der Luft holen und die den Unterricht in der ganzen Zeit möglich gemacht hätten. Wir wissen ja alle noch nicht, wie es weitergeht, aber wir müssten dafür sorgen, dass wir nie wieder die Schulen schließen müssen. Deswegen kann ich nur an die Verantwortlichen im Bund und den Ländern appellieren: Nutzt die Sommerpause, um jedes Klassenzimmer mit Luftfiltern – auch wenn es mobile Geräte sind – auszurüsten. Bildet die Lehrkräfte fort, damit digitales Lernen im Präsenzunterricht möglich ist, kümmert euch um Datenschutzfragen und sorgt dafür, dass die Mittel aus dem Digitalpakt schneller abgerufen werden!
News4teachers: Sie haben sich als Politikerin immer für den Digitalpakt 2.0 eingesetzt. Was soll dieser Ihrer Vorstellung nach beinhalten?
Suding: Mit dem jetzigen Digitalpakt wird hauptsächlich in die technische Infrastruktur investiert, in Internetleitungen und Endgeräte. Wenn man es mathematisch ausdrückt, ist das sozusagen die notwenige Bedingung für digitale Bildung. Aber die hinreichenden Bedingungen sind all die Punkte, die ich genannte habe, also ausgebildete Lehrkräfte, Lernplattformen, digitale Schulbücher, Ed-Tech-Coaches, Systemadministratoren und so weiter. All das findet sich in unserem Antrag zum Digitalpakt 2.0 wieder. Dazukommt, wenn digitale Bildung tatsächlich stattfinden soll, muss die Finanzierung und die Wartung der technischen Infrastruktur langfristig gesichert werden.
News4teachers: Wir reden schon die ganze Zeit von den Voraussetzungen für digitale Bildung. Aber was verstehen Sie eigentlich unter guter digitaler Bildung?
Suding: Digitale Bildung bedeutet natürlich nicht, dass alles nur noch digital stattfindet und Kinder in der Grundschule beispielsweise keine Handschrift mehr erlernen. Unter digitaler Bildung verstehe ich, dass man mit intelligenten digitalen Konzepten, die in ein gesamtpädagogisches Konzept integriert sind, den Unterricht unterstützt und besser macht. Und was insbesondere digitale Bildung ermöglicht, ist, dass man sehr viel individueller auf Schülerinnen und Schüler eingehen kann. Es gibt beispielsweise intelligente Lernprogramme, die in der Lage sind, zu erkennen, wie Informationen von einem Schüler oder einer Schülerin besonders gut aufgenommen werden können – über das Lesen von Texten, über das Hören oder auch über grafische Elemente. Und auch beim Üben können intelligente Lernprogramme erkennen, wo ein Kind noch Schwierigkeiten hat und Unterstützung braucht. Dadurch können auch Lehrkräfte viel individueller auf ihre Schüler eingehen. Insgesamt bekommt der Lehrer in Zukunft eine andere Rolle, weg vom reinen Wissensvermittler hin zum Wissensmanager und Lernbegleiter. Denn wichtiger als die Vermittlung von Inhalten sind Fähigkeiten, die man in der digitalen Welt verstärkt benötigt: Kommunizieren, Zusammenarbeiten, kritisches Denken, Austausch in der Gruppe. Deshalb wird auch der Bereich des sozialen Lernens wichtiger und das kollaborative Lernen wird mehr Platz einnehmen.
News4teachers: Das ist das richtige Stichwort: Kollaboration. Sie haben selbst schon das Problem der Lernplattformen und Schulclouds angesprochen. Bisher gibt es ganz unterschiedliche Lösungen, die von den Schulen genutzt werden. Haben Sie das Gefühl, es bräuchte eine gemeinsame Cloud, wo sich alle Schulen versammeln und austauschen?
“Es gibt ja viele private Anbieter von Lernplattformen und man hätte sich mindestens mal anschauen müssen, was sie anbieten”
Suding: So eine bundesweite Plattform kann sicherlich sinnvoll sein. Es gibt ja die HPI Schul-Cloud, die mit Steuergeldern gefördert worden ist, die funktioniert nur leider nicht. Lediglich drei Länder nutzen sie nun – mit unbekannten Nutzerzahlen –, obwohl es extrem hohe staatliche Investitionen des Bundes gegeben hat. Das liegt daran, dass sich der Bund bei der Entwicklung der HPI-Cloud nicht richtig mit den Ländern verständigt hat. Aber wenn die Länder diese Plattform nutzen sollen, dann hätte man vorher natürlich mal abfragen müssen: Was sind eure Bedürfnisse, was sind eure Anforderungen an ein solches Projekt? Und man hätte für die Nutzung werben müssen. Das ist alles nicht richtig passiert und auch die Erkenntnisse, die man bisher gewonnen hatte, wurden nicht wirklich weitergegeben. Hier hakt die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern enorm, weshalb der Geldregen, den man für dieses Projekt bereitgestellt hat, leider auf nicht aufnahmebereiten Boden gefallen ist. Und dann muss man sich natürlich auch die Frage stellen, ob der Staat überhaupt etwas erfinden muss, was Private genauso gut oder sogar besser können.
News4teachers: Und was ist Ihre Antwort darauf?
Suding: Es gibt ja viele private Anbieter und man hätte sich mindestens mal anschauen müssen, was sie anbieten. Ich denke, es wäre gut gewesen, wenn man Kriterien definiert hätte, die alle Anbieter von Lernplattformen erfüllen müssen. Dabei denke ich insbesondere an das Thema Datenschutz. Wenn man sich da auf gute, einheitliche Vorgaben geeinigt hätte, dann wäre inzwischen klar, welche privaten Anbieter genutzt werden können und was auch Landes- und Bundesplattformen erfüllen müssen.
News4teachers: Beim Thema Datenschutz denke ich sofort an den aktuellen Streit um Microsoft. Da bekommt man schnell das Gefühl, hier treffen zwei Fronten aufeinander. Viele Lehrkräfte und Schulleitungen sagen, die Anwendungen sind für uns vor allem praktisch, die haben wir jetzt angeschafft und wollen sie weiterhin nutzen, beispielsweise für Videokonferenzen. Auf der anderen Seite stehen die Datenschützer, die Microsoft an Schulen am liebsten komplett verbieten würden, wie News4teachers berichtet. Da stellt sich natürlich die Frage: Wie wichtig ist Datenschutz und wie wichtig ist gut funktionierender Unterricht? Und wie könnte ein Kompromiss aussehen?
Suding: Als wir im Lockdown waren und es kaum Angebote gab, da war man sich einig und selbst Datenschützer haben zu den Schulen gesagt, bevor ihr überhaupt nicht kommunizieren könnt, könnt ihr auch eine Variante nehmen, die vielleicht nicht die allerhöchsten Datenschutzstandards erfüllt. Das konnte in einer Krise sicherlich jeder tolerieren und akzeptieren. Das ist aber keine Dauerlösung, das muss auch jedem klar sein. Und deswegen gilt das, was ich eben schon sagte: Der Bund muss zusammen mit den Ländern Standards definieren. Was muss so eine Plattform – sei sie eine staatliche Lösung, sei sie eine private Lösung – eigentlich erfüllen, insbesondere beim Thema Datenschutz. Und dann kann man ja eine Liste erstellen mit Anbietern, die diese Vorgaben erfüllen, damit Schulen daraus nach ihren Bedürfnissen wählen könnten. Dann wären die Schulen auf der sicheren Seite und die Anbieter wüssten, was sie überhaupt leisten müssen, damit ihre Produkte an Schulen zum Einsatz kommen können. So würden alle profitieren.
News4teachers: Wir reden jetzt schon ganz viel über die potenzielle Zusammenarbeit von Bund und Länder. So wie ich Sie verstanden habe, hätten Sie den Bildungsföderalismus gerne abgeschafft.
Suding: Ich will ihn nicht abschaffen, ich würde ihn aber modernisieren wollen. Was ich mir vorstelle – grob skizziert – ist, dass Bund und Ländern gemeinsam an der Entwicklung und Durchsetzung von bundesweit einheitlichen und qualitativ sehr hochwertigen Bildungsstandards arbeiten. Und diese Standards, und zwar nicht nur fürs Abitur, sondern auch für alle anderen Klassenstufen und alle Schulformen, würden den Rahmen geben. Den Weg allerdings, wie diese Ziele zu erreichen sind, sollten Schulen mit größtmöglicher Autonomie selbst festlegen. Das ist auch das, was die Bildungsforschung sagt: Schulen funktionieren am besten, wenn es auf der einen Seite einheitliche Standards gibt, wenn man den einzelnen Schulen auf der anderen Seite aber viel Freiraum einräumt und sie ihre eigenen Konzepte entwickeln dürfen.
News4teachers: Es gibt ja den bekannten Satz in der Bildung, dass man Ungleiches auch ungleich behandeln muss. Brauchen Schulen, um einheitliche Standards überhaupt umsetzen zu können, nicht unterschiedliche Mittel und Unterstützung, je nachdem, in welcher Lage sie sich befinden?
Suding: Ja, definitiv. Ich selbst komme aus Hamburg. Wenn man sich dort umschaut, gibt es Schulen, beispielsweise in Blankenese, die mit eher wohlhabenden Familien ganz anderen Herausforderungen begegnen als beispielsweise Schulen in einem Stadtteil, in dem 80 bis 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben. Im zweiten Fall braucht es zum Beispiel mehr Mittel für Sprachförderung, vielleicht auch für Sozialarbeit. Darauf muss man reagieren. Aber letztendlich sind die Kinder an der einen Schule nicht weniger talentiert als an der anderen. Und unter beiden Bedingungen, in beiden Stadtteilen, kann Schule extrem gut funktionieren, wenn man ihr möglichst viel Autonomie und die nötigen Mittel gibt.
News4teachers: Insgesamt wurde während der Corona-Krise häufig betont, dass die Pandemie wie ein Brennglas wirke und deutlich zeige, wo die Probleme liegen. Abgesehen von der Digitalisierung: Wo sehen Sie noch Probleme, die jetzt deutlich hervorgetreten sind und angegangen werden müssen?
“Die Lehrperson ist ja die zentrale Figur an einer Schule. Sie gibt letztendlich den Ausschlag, ob Bildung funktioniert oder nicht”
Suding: Der Lehrermangel ist sicherlich ein großes Thema. Die Lehrperson ist ja die zentrale Figur an einer Schule. Sie gibt letztendlich den Ausschlag, ob Bildung funktioniert oder nicht. Deswegen müssen wir sicherstellen, dass diejenigen, die zum Lehramtsstudium zugelassen werden, wirklich motiviert und für den Job geeignet sind. Ich sage jetzt mal ganz provokant, diejenigen, die glauben, sie hätten nach dem Studium einen Halbtagsjob mit 13 Wochen Ferien, die sind an der Schule sicherlich nicht richtig aufgehoben. Wir brauchen wirklich die Besten der Besten. Und dafür müsste der Lehrerberuf der attraktivste und begehrteste Beruf Deutschlands sein. Am Können und der Motivation der Lehrkräfte hängt letztlich die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
News4teachers: Und wie wird der Job attraktiver?
Suding: Ein Anfang wäre es, dass wir schon im Studium mehr Möglichkeiten schaffen, sich zu spezialisieren. Der eine will vielleicht eine Schulleiterkarriere einschlagen, der andere will sich in seinem Fachbereich ausleben. Ich finde außerdem, dass man Konzepte entwickeln sollte, wie man Anreize, eventuell auch monetäre Anreize, schaffen kann, damit Leistung innerhalb des Systems Schule auch belohnt wird. Etwas überspitzt formuliert: Jemand, der sich wirklich reinhängt, der sich weiterbildet, der tolle Ideen entwickelt und umsetzt, muss auch belohnt und anders bezahlt werden als jemand, der einmal nach dem Studium ein Konzept entwickelt hat und das für die nächsten 40 Jahre durchzieht, ohne etwas zu verändern.
News4teachers: Wir haben jetzt viele Baustellen im Bildungsbereich angesprochen. Was würden Sie den Entscheidungsträgern, den Bildungspolitikerinnen und -politikern für die nächsten Jahre mit auf den Weg geben?
Suding: Ein Thema, das mich neben der Digitalisierung umtreibt, ist die Tatsache, dass in Deutschland der Bildungserfolg immer noch zu sehr vom Elternhaus abhängig ist und das darf nicht sein. Jedes Kind hat die besten Chancen verdient. Jedes Kind hat Talente und da muss es egal sein, welche Voraussetzungen die Eltern mitbringen. Es darf auch keinen Unterschied machen, aus welchem Bundesland ein Kind kommt. Kinder sind natürlich niemals gleich und es wird niemals durch die Schule alles aufgehoben werden können, was im Elternhaus stattfindet oder eben nicht stattfindet. Aber in anderen Ländern sehen wir, dass es möglich ist, den Bildungserfolg vom Elternhaus abzukoppeln und das müssen wir in Deutschland auch besser schaffen. Laura Millmann, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
