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Wie ein depressives Mädchen in der Corona-Krise an der Schule verzweifelt

BERLIN. Schule auf, Schule zu, Masken auf, Masken runter – viel mehr fällt den Kultusministern in Deutschland in der Corona-Krise nicht ein. Hin und wieder kommt ein Appell an die Lehrkräfte hinzu, die belasteten Schülerinnen und Schüler nicht mit Leistungsansprüchen zu überfordern. Wie die Kollegien den Druck herausnehmen sollen, bei nach wie vor geltenden Lehrplänen und Anforderungen, bleibt dann ihnen selbst überlassen. Meist passiert deshalb gar nichts. Darunter leiden dann vor allem psychisch vulnerable Kinder und Jugendliche, die schon mit dem regulären Schulbetrieb ihre Probleme hatten. Welche Dramatik dabei entstehen kann, zeigt der folgende Bericht einer Mutter. Ihre Tochter leidet unter Depressionen und wurde durch unsensible Entscheidungen der Schule in eine akute Krise getrieben.

Psychisch vulnerable Kinder und Jugendliche bleiben in der Corona-Krise häufig auf der Strecke. (Symbolbild) Foto: Shutterstock

Lebensgefährliche Entscheidungen der Schule statt Unterstützung für psychisch erkrankte Schüler – auch das kann die bittere Realität sein!

Es wäre schön, wenn Schulen generell die psychischen Nöte von Kindern und Jugendlichen wahrnehmen würden. Mit Sicherheit bemühen sich viele Lehrer/innen und Schulleitungen in dieser Hinsicht, meist merken aber doch die Eltern viel früher, dass etwas nicht mehr stimmt.

Corona hat zusätzliche psychische Belastungen für Kinder und Jugendliche mit sich gebracht. Aber ein stereotypes Verweisen auf die Auswirkungen der Schulschließungen greift zu kurz. Schule kann auch der entscheidende Auslöser für eine Verschlechterung der psychischen Verfassung sein. Vor allem, wenn sie sich nicht einmal dann für Symptome und Auswirkungen einer psychischen Erkrankung interessiert, wenn sie von den Eltern darüber informiert wird. Wir haben mit unserer Tochter leider an einem Gymnasium in Baden-Württemberg erlebt, wie sehr sich die psychische Verfassung durch fehlendes Verständnis, mangelnde Kommunikation und ungünstige Entscheidungen verschlechtert hat.

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Unsere Tochter ist seit mehreren Jahren, lange vor Corona, depressiv erkrankt und in fortlaufender Behandlung. Im Zeitraum September 2019 bis März 2021 war sie relativ stabil, trotz der Schulschließungen. Bei Schuljahresbeginn im September 2020, nach dem ersten Lockdown mit nur insgesamt zwei Wochen Präsenzunterricht zwischen 20. März 2020 und Schuljahrsende, ging es ihr sogar so gut wie noch nie seit Beginn ihrer Erkrankung, leider im normalen Schulbetrieb dann aber schon bald wieder etwas schlechter. Aktuell geht es ihr jetzt so schlecht wie noch nie. Was ist dazwischen passiert?
Angefangen hatte es schon im Herbst im Präsenzunterricht: Wenn eine (bekannt!) depressiv erkrankte Schülerin sich sehr wenig mündlich beteiligt, sich nicht einmal traut, die zuhause in Ruhe gemachten und richtig im Heft stehenden Hausaufgaben vorzulesen, kann man das als Leistungsverweigerung einordnen. Oder man könnte wahrnehmen, dass dies durch die Erkrankung bedingt ist.

Wenn die gleiche Schülerin sich im Distanzunterricht in Online-Konferenzen nur ganz selten mündlich beteiligt, bei direkter Ansprache oft Panik bekommt und dann Internet-Probleme vorschiebt, kann man pauschal in Frage stellen, ob sie überhaupt mitarbeitet. Man könnte aber auch Verständnis haben, dass die mündliche Beteiligung in der Online-Konferenz noch schwerer fällt als im Klassenzimmer, und stattdessen z. B. Inhalte schriftlich abgeben lassen oder außerhalb der Konferenz nachfragen.

Wenn die Schülerin trotz Depression und damit schlechterer Konzentrationsfähigkeit sich durch den täglichen Berg an Aufgaben im Distanzunterricht arbeitet, dabei manchmal zuhause um Hilfe und Erklärung fragt, wenn sie etwas nicht versteht, und diese dann weitgehend ordentlich abgibt, kann man – ausgehend von dem schon vorhandenen negativen Bild – erst mal in Frage stellen, ob sie die Aufgaben denn auch selbständig gemacht hat und man sie überhaupt zu ihren Gunsten werten kann. Man braucht sich auch nicht davon irritieren lassen, wenn sie eine Präsenz-Arbeit während des Distanzunterrichts plötzlich eineinhalb Noten besser schreibt als bislang in diesem Fach üblich.

Beim Wiederbeginn des Präsenzunterrichts entscheiden wir uns nach sehr sorgfältiger Abwägung, unsere Tochter bei hohen Inzidenzen vorerst noch im Distanzlernen zu belassen. Es ist uns bewusst, dass dies gerade bzgl. der obigen Zweifel eine für die Schule schwierige Entscheidung ist. Auch haben wir Bedenken, dass das Distanzlernen für nur einzelne zu Hause lernende Schüler noch mühsamer werden wird, was auch so eintritt. Der Grund für unsere Entscheidung ist zum einen die Sorge vor dem akuten Verlauf einer Covid-Erkrankung, denn das Risiko für einen schweren Verlauf ist laut Auswertung der Barmer Krankenkasse bei depressiv Erkrankten höher als für Vorerkrankte mit Lungenerkrankung oder Dialyse. Noch mehr Sorgen macht uns aber, dass die Depression bei unserer Tochter unmittelbar im Anschluss an einen heftigen, langandauernden Virus-Infekt begonnen hatte, wir befürchten, dass sie besonders anfällig für Long Covid sein könnte und dies zu einer weiteren Verschlechterung der Depression führen könnte. Nach mühsamen Jahren mit Depression wollen wir eine weitere Virus-getriggerte Verschlechterung nicht riskieren. Wir teilen der Schule die Gründe mit, kündigen an, dass sie in den Unterricht kommen wird, sobald sie wenigstens einmal geimpft ist (das war noch vor Delta) und hoffen auf Verständnis dafür, dass die Gesundheit vorgeht. Wir bemühen uns auch noch vor der EMA-Zulassung für 12-15-Jährige aktiv um eine Off-Label-Impfung, haben dabei aber leider keinen Erfolg.

Wirklich schief geht alles dann im Zeitraum ab den Osterferien: Ende März nimmt die behandelnde Psychiaterin eine beginnende Verschlechterung wahr und schlägt mittels eines Attests eine präventive Entlastung im Zeitraum zwischen Ostern und Pfingsten vor. Wörtlich: „[..] Ich möchte Sie bitten, zu prüfen, ob es möglich ist, dass sie die Klassenarbeiten und Tests zwar mitschreibt, aber nicht regulär benotet wird, um ihr so die Angst und den Druck zu nehmen. […]“. Genau die gleiche Maßnahme wurde an der gleichen Schule zwei Jahre früher bereits erfolgreich über mehrere Monate hinweg praktiziert, so dass Psychiaterin und Eltern darauf vertrauen, dass das wieder eine gute Lösung sein kann. (Ja, damals ließen sich mit der damaligen Stufenleitung tatsächlich gute, entlastende Lösungen umsetzen!) Anscheinend ist das aber in der jetzt aktuellen Klassenstufe nicht mehr möglich, d. h. ein Mitschreiben ohne Benotung nicht machbar.

Nun hätte der Klassenlehrer oder die Stufenleitung dies ja rückmelden können und man hätte gemeinsam überlegen können, welche Art von Entlastung stattdessen hilfreich sein könnte. Die Schule hätte auch mitteilen können, dass gar keine Nebenfach-Arbeiten mehr geplant sind und im Zeitraum bis Pfingsten nur eine einzige Hauptfach-Arbeit und ein Vokabeltest anstehen. Sie hätte auch darauf hinweisen können, dass in Hauptfächern unbedingt zwei Arbeiten im Schuljahr geschrieben werden müssen, damit Noten erteilt werden können. Und dann hätte man festgestellt, dass es am besten wäre, alles ganz normal laufen zu lassen und insbesondere auch eine wegen akuter Krankheit verpasste Hauptfach-Arbeit von vor Ostern noch zeitnah nachschreiben zu lassen, solange nichts anderes ansteht. Damit wären die Anforderungen in diesem Zeitraum auch für unsere Tochter überschaubar gewesen und sie hätte das leisten können.

“Nachdem nun die Versetzung in Frage gestellt wird, ergibt sich nicht die erhoffte Entlastung, sondern es entsteht zusätzlicher Druck”

Stattdessen gibt es keine Rückmeldung, weder die Information, dass ein unbenotetes Mitschreiben nicht möglich ist, noch einen Hinweis, dass jeweils zwei Hauptfach-Arbeiten dringend nötig sind für die Versetzung. Die Klassenkonferenz kommt schließlich Ende April zusammen und beschließt nicht die beantragte Entlastung, sondern eine Aussetzung der Notengebung bis Pfingsten ohne die Möglichkeit, Arbeiten mitzuschreiben. Wir erhalten die folgende schriftliche Rückmeldung:

„[…] ‚Die Klassenkonferenz setzt aus gesundheitlichen Gründen für […] vorübergehend die Notengebung bis Pfingsten aus.

Ist ein uneingeschränkter Unterrichtsbesuch inklusive schriftlicher Leistungsnachweise nach Pfingsten weiterhin nicht möglich, kann es zum Schuljahresende zu einer Aussetzung von Noten kommen.‘

Wir hoffen sehr, dass es […] bis Pfingsten wieder besser geht, und dass wir durch unsere Unterstützung einen Beitrag zur Besserung ihres Befindens leisten können. Bitte halten Sie uns informiert, sollte sich bis Pfingsten etwas ändern. […]“

Es wird uns also immer noch nicht (!) mitgeteilt, dass das Mitschreiben von Arbeiten in diesem Zeitraum dann nicht möglich ist. Wie es aussieht, ist sich die Klassenkonferenz anscheinend sogar dessen bewusst, dass diese Lösung die Versetzung gefährden kann, beschließt sie aber trotzdem ohne eine Suche nach Alternativen.

Anscheinend wird auch entgegen dem Vorschlag der Psychiaterin beschlossen, dass dann sonstige Leistungen, die abgegeben werden, ebenfalls nicht benotet werden, aber auch das wird nicht mitgeteilt. Für eine größere schriftliche Aufgabe in Ethik in dieser Zeit, die wie eine Klassenarbeit zählen soll, arbeitet die Tochter etliche Stunden, bekommt aber bis Schuljahrsende weder eine Benotung noch eine sonstige Rückmeldung.

Nachdem nun erstmals die Versetzung möglicherweise in Frage gestellt wird, ergibt sich für die Tochter nicht die erhoffte Entlastung, sondern es entsteht zusätzlicher Druck, die Depression verschlechtert sich. Wir fragen zweimal explizit per Mail an, was denn noch ansteht und welche Leistungen wann dringend erbracht werden müssen, erhalten dazu aber keine Informationen.

Zwei Wochen vor den Pfingstferien ist dann die einzige Arbeit in diesem ganzen Zeitraum angesetzt, aufgrund von Wechselunterricht zunächst für die halbe Klasse. Unsere Tochter lernt trotz der bereits verschlechterten Depression mehrere Nachmittage für die Arbeit (in kleinen Einheiten, weil nicht viel auf einmal geht). Erst am Nachmittag vor der Arbeit erfahren wir, dass sie nicht mitschreiben darf, und halten das zunächst für ein Missverständnis. Ein Mitschreiben wird aber tatsächlich kategorisch abgelehnt.

Daraufhin schreiben wir den Klassenlehrer und die Stufenleitung an, erklären, dass der Beschluss so nicht dem Antrag entspricht und dass der Druck für unsere Tochter noch größer wird, wenn diese Arbeit auch noch auf die Zeit nach den Pfingstferien verschoben wird. Auch, dass die Aussetzung der Benotung nun völlig an der Intention vorbeiläuft und wir sie nie beantragt hätten, wenn Informationen dazu vorgelegen hätten, dass nur eine einzige Arbeit in dem ganzen Zeitraum geschrieben wird. Wir bitten darum, ein benotetes(!) Mitschreiben in der darauffolgenden Woche mit der anderen Hälfte der Klasse zu ermöglichen, und erhalten als Antwort: „[…] Wir können nicht die Notenfeststellung aus gesundheitlichen Gründen aussetzen und dann spontan Klassenarbeiten schreiben lassen (und diese optional bewerten). […]“.

Wirklich beim besten Willen nicht? Wie war das weiter oben mit „Bitte halten Sie uns informiert, sollte sich bis Pfingsten etwas ändern.“? Wie wäre es mit dem Eingeständnis, dass die beschlossene Maßnahme nicht dem Vorschlag der Psychiaterin entspricht, die Schülerin nicht entlastet, sondern zusätzlich belastet? Und sie deshalb nicht zur Anwendung kommt?

“Aufgrund akuter Suizidalität wird meine Tochter von ihrer Psychiaterin für den Rest des Schuljahres krankgeschrieben”

Die Tochter ist danach zutiefst frustriert, mit immenser Anstrengung hat sie versucht, diese Leistung zu erbringen, und darf es dann nicht. Stattdessen wird der Berg für die Zeit nach Pfingsten noch größer.

Für sie wird der Berg damit zu groß! Lebensgefährlich groß! Aufgrund akuter Suizidalität wird sie kurz vor Ende der Pfingstferien von ihrer Psychiaterin für den Rest des Schuljahres krankgeschrieben.

Für uns beginnt damit das Bangen, was die Krankschreibung für die Versetzung bedeuten wird. In der Halbjahresinformation hatte die Tochter einen Schnitt von 3,0 und alle Fächer zwischen „gut“ und „ausreichend“, also keinerlei Versetzungsgefahr. Bis Pfingsten hatte sie regulär am Distanzunterricht teilgenommen und durch die Aussetzung der Benotung nur eine Hauptfach-Arbeit und einen Vokabeltest verpasst. Bei einer weiteren wichtigen Hauptfach-Arbeit, die sie vor Ostern wegen akuter Krankheit verpasst hatte, hatten wir – sobald klar war, dass sonst keine Arbeiten geplant waren – ebenfalls darum gebeten, sie doch noch vor Pfingsten nachschreiben zu dürfen. Auch das wurde abgelehnt.

Die Schule gibt trotz des Attests der Psychiaterin noch eine amtsärztliche Untersuchung in Auftrag, um „eine gute Lösung […] finden zu können“. Der Termin dafür ist ausgerechnet am Tag nach ihrer Zweitimpfung, aber ziemlich kurz vor der Notenkonferenz, so dass wir die Tochter, für die der Termin bereits psychisch eine riesige Herausforderung ist, mit erhöhter Temperatur und Abgeschlagenheit (in Absprache mit der Amtsärztin) mit äußerster Mühe zu diesem Termin bringen, damit er vor der Konferenz wahrgenommen wird. Ihr psychischer Zustand wird dadurch für mehrere Tage noch schlechter. Die Amtsärztin bescheinigt, dass sie grundsätzlich schulfähig ist, aber die Schulfähigkeit aktuell durch eine psychische Störung beeinträchtigt ist. In welcher Form das für die Entscheidung der Notenkonferenz relevant ist, erfahren wir nicht, hoffen aber immer noch auf eine „gute Lösung“. Die Schule ist darüber informiert, dass die Tochter sich an einem beruflichen Gymnasium beworben hat, dort sicher einen Platz hätte, diesen aber nur mit einer regulären Versetzung annehmen kann. Die Amtsärztin empfiehlt der Schulleitung dringend, zusammen mit der behandelnden Ärztin, der schulpsychologischen Beratungsstelle und dem Sozialdienst der Schule die weiteren Möglichkeiten der Beschulung zu besprechen und zu planen. Diese Gespräche finden aber nicht statt.

Die Notenkonferenz beschließt schließlich, die Versetzung aufgrund der Corona-Verordnung für ein halbes Jahr auszusetzen. Als Grund wird angegeben, dass in manchen Hauptfächern (krankheitsbedingt) keine zwei Arbeiten geschrieben wurden. Soweit wir den Überblick haben, fehlen genau die zwei Arbeiten, bei denen wir explizit darum gebeten hatten, dass unsere Tochter sie vor Pfingsten schreiben darf und bei denen die Schule dies abgelehnt hat. Zwei Arbeiten, auf die sie beide jeweils schon gelernt hatte und die sie ohne Probleme gut genug geschrieben hätte! Das macht es besonders bitter.

Fachgipfel berät: Mehr psychisch belastete Kinder und Jugendliche – was tun?

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