HAMBURG. Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) – Sprecher der SPD-geführten Kultusministerien in Deutschland – hat scharfe Kritik am Verhalten von Lehrkräften und ihren Verbänden in der Pandemie geübt. „Bis heute bekämpfen einige Verbände mit einer Wucht die offenen Schulen, dass man wirklich nur kopfschüttelnd danebenstehen kann. Damit hatte ich nicht gerechnet. Verantwortung sieht anders aus“, so erklärt er in einem Interview mit dem „Spiegel“ – und behauptet: Corona sei für Kinder nicht gefährlicher als die Grippe.
Weiter sagte Rabe: „Mich irritiert auch das Hin und Her zwischen Hysterie und Sorglosigkeit. Wir haben in Hamburg die Schulen immer für eine Notbetreuung offengehalten. Das hat anfangs zu einem unglaublichen Widerstand geführt. Im Frühjahr 2020 hatte ich den Eindruck, die Schulen konnten sich selbst gar nicht schnell genug schließen, sogar Schüler in echten Notlagen wurden nicht eingelassen. Beim zweiten Lockdown waren dann plötzlich über 40 Prozent der Kinder in der Notbetreuung. Mittlerweile werden selbst einfache Sicherheitsmaßnahmen nicht immer eingehalten. Etwas mehr Maß und Mitte wären sicher besser.“
„Im internationalen Vergleich hat Deutschland viel zu oft die Schulen geschlossen“
Rabe, der mittlerweile der dienstälteste Kultusminister in Deutschland ist, betont: „Meine Forderung nach offenen Schulen finde ich nach wie vor richtig.“ Im internationalen Vergleich habe Deutschland viel zu oft die Schulen geschlossen. „Tatsächlich – das bestätigen Kinderärzte ein ums andere Mal – ist jede Grippewelle für Kinder und Jugendliche durchaus mit den gleichen oder sogar stärkeren Gefahren verbunden als Corona. Nicht, dass man mich falsch versteht: Corona ist für Erwachsene und insbesondere Ältere viel gefährlicher als die Grippe, aber bei den Kindern sieht das anders aus.“
Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprach sich noch vor zweieinhalb Wochen entschieden dagegen aus, die bevorstehende Infektionswelle einfach durch die Kitas und Schulen rollen zu lassen. „Ich bleibe dabei, eine Durchseuchung mit der Omikron-Variante wäre für die Kinder, wie aber auch für die Erwachsenen in keiner Weise verantwortbar“, sagte er. „Das kann man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Hier werden viele schwer krank werden und werden auch längerfristig krank werden. Das wollen wir gerade unseren Kindern auf jeden Fall ersparen“, erklärte Lauterbach.
Auch zur Forderung nach einer Aussetzung der Präsenzpflicht an den Schulen äußerte sich Rabe im “Spiegel”-Interview pointiert – diese hat nach seiner Ansicht mit dem sozialen Status der Eltern zu tun. «Die Debatte wird oft von Kreisen dominiert, die mit Schulschließungen gut umgehen können», sagte er. «Es ist ein Unterschied, ob ein Oberstufenschüler in einem gut ausgestatteten Jugendzimmer lernt oder ob wir es mit Grundschulkindern oder mit Kindern und Jugendlichen aus sozial nicht so gut gestellten Familien zu tun haben.»
Dagegen warf die Schulexpertin der Linksfraktion, Sabine Boeddinghaus, Rabe vor, durch das Festhalten an der Präsenzpflicht für einen «Zwang zur Infektion» zu sorgen. Gerade bei jungen Menschen, die die Linken-Politikerin zur vulnerablen Gruppe zählte, gingen die Inzidenzen durch die Decke, sagte Boeddinghaus und forderte den Senator auf, «sich endlich vom Dogma der Präsenzpflicht zu lösen» und den einzelnen Schulen mehr Gestaltungsspielraum im Umgang mit der Pandemielage einzuräumen.
Rabe betonte hingegen, dass 53 Prozent der Kinder in Hamburg einen Migrationshintergrund hätten. In 28 Prozent der Familien werde kein Deutsch gesprochen und mehr als ein Drittel beziehe Hartz IV, sagte er. «Viele haben kein eigenes Kinderzimmer und leben in engen Wohnungen. Das sind alles Rahmenbedingungen, die man mitdenken muss.» Diejenigen, die die Debatte zurzeit in Deutschland bestimmten, würden das oft ausblenden, «weil sie nur ihre persönliche Lage sehen».
“Ich finde Bildung so wichtig, dass über die Schließung einer Schule nicht eine Schulleitung allein entscheiden darf”
Es den Schulen anhand der jeweiligen Corona-Situation selbst zu überlassen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, sei für ihn nicht der richtige Weg, unterstrich der Senator. «Ich finde Bildung so wichtig, dass über die Schließung einer Schule nicht eine Schulleitung allein entscheiden darf, sondern sich die Politik dieser Verantwortung stellen muss.»
Zudem liege die derzeitige coronabedingte Krankheitsquote unter den Lehrkräften in Hamburg unterhalb der für die Erkältungssaison üblichen Quote. «In den Erkältungsmonaten liegt die Ausfallquote der Lehrkräfte zwischen acht und elf Prozent, bei den Schülern zwischen fünf und zehn Prozent. Wegen Corona-Infektionen fehlen derzeit dagegen nur zwei Prozent der Schüler und ein Prozent der Lehrkräfte», sagte Rabe. News4teachers / mit Material der dpa
Hier geht es zum vollständigen “Spiegel”-Interview mit Rabe (Bezahlinhalt).