MÜNCHEN. Am heutigen Diversity-Tag rücken behinderte Menschen in den Blickpunkt. Doch: Bei der Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung fühlen sich Lehrkräfte nach Einschätzung des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) allein gelassen. Der BLLV bezieht sich dabei auf eine Befragung von 695 Lehrkräften zum schulischen Alltag, wie der Verband mitteilt. «Inklusion wird heute nur durch den Einsatz und den pädagogischen Idealismus von Lehrerinnen und Lehrern am Leben gehalten», betont die Vorsitzende des BLLV, Simone Fleischmann. Das dürfte auch für die anderen Bundesländer gelten.
Insgesamt 97 Prozent der befragten Lehrkräfte halten laut BLLV die Inklusion unter den derzeitigen Rahmenbedingungen für nicht realisierbar. Lediglich von Schulbegleitung, Kollegium und Schulberatung vor Ort fühlten sich die Lehrkräfte unterstützt – von der Politik nicht. Denn, so heißt es in einer Pressemitteilung: «Es fehlt an Personal für Fördermaßnahmen, an professionellen Unterstützungssystemen, an guten Fortbildungsangeboten und schlicht an Zeit für Bildung. Nicht zuletzt fehlt es an Personal und Ressourcen für eine Differenzierung im Sinne eines individualisierten Unterrichts zur optimalen Förderung von Schülerinnen und Schülern.»
Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf werden laut Umfrage bei der Klassenbildung kaum berücksichtigt. So seien inklusive Klassen meist so groß wie nicht-inklusive. Lehrkräfte hätten dann nicht mehr Zeit, sich den einzelnen, förderbedürftigen Kindern zu widmen. Zudem hätten die Lehrerinnen und Lehrer kaum Möglichkeiten sich fortzubilden. «Natürlich gibt es Fortbildungen und Unterstützungssysteme, aber nur in homöopathischen Dosen», betont Fritz Schäffer, Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik des Verbandes.
«Die Kinder bekommen nicht die Förderung, die sie brauchen. Besonders schlimm trifft es die Regelschulen»
Weiter erklärt er: «Die Kinder bekommen nicht die Förderung, die sie brauchen. Besonders schlimm trifft es die Regelschulen. Für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die eine Förderschule besuchen, wird rund das Doppelte aufgewendet wie für die, die an einer Grund- oder Mittelschule inklusiv beschult werden. Diese Differenz kann man als unfreiwillige Spende der Kolleginnen und Kollegen an den Staat betrachten.»
Ergebnisse im Einzelnen:
- Nur rund ein Drittel der Befragten erklären, dass sie Unterstützung durch Schulbegleitung, Sozialpädagoginnen und -pädagogen oder Sozialarbeiterinnen und -arbeiter bekommen. Noch seltener unterstützen der Mobile Sonderpädagogische Dienst (MSD) oder Förderlehrkräfte die heterogenen Lerngruppen. Ähnlich sind die Zahlen, wenn man nach der Durchführung von Förderstunden fragt: Nur 21 Prozent der Befragten gaben an, dass diese regelmäßig an ihrer Schule stattfinden.
- Nur acht Prozent der Befragten meinten, dass die Anzahl von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei der Klassenbildung eine Rolle spielt. Entsprechend unterscheidet sich laut 85 Prozent der Befragten die Klassengröße von inklusiven Klassen nicht von der Größe nicht-inklusiver Klassen. Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf werden bei der Stundenzuweisung von Lehrerstunden bislang aus Lehrersicht oft kaum berücksichtigt: Zumindest an den Regelschulen, wo der Großteil der Inklusion heute stattfindet, kommen kaum zusätzliche Stunden an.
- Der Einsatz von Schulbegleiterinnen und Schulbegleitern wird immer wieder als wichtiger Baustein der Inklusion angeführt, aber auch hier scheint die Realität eine andere zu sein: 75 Prozent der Befragten plädieren für eine Neukonzeption der Schulbegleitung und sehen den bisherigen Ansatz als nicht genutzte Chance. Aus Sicht des BLLV mangelt es an einer qualifizierten Ausbildung, an angemessener Bezahlung und dem arbeitsrechtlichen Status – eine Chance wäre die Entwicklung eines Berufsbilds «Sonderpädagogische Inklusionsassistenz“ mit einer Zuordnung zum Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus. Statt eine punktuelle Einzelfallbetreuung zu bieten, könnte die Schulbegleitung mit einem breiten Einsatzgebiet und guter Qualifikation damit zu einer echten Unterstützung für die Schülerinnen und Schüler, die Eltern und die Lehrkräfte werden.
Darüber hinaus fordert der BLLV, dass bei Budgetierung und Stundenzuweisung an den Schulen Kinder mit Förderbedarf dreifach gezählt werden. Dadurch würden Klassen, denen Kinder mit Förderbedarf angehören, kleiner. So hätten die Lehrkräfte mehr Zeit, diese Kinder bedarfsgerecht zu fördern. Auch müsse es nach Ansicht des Verbands mehr Fortbildungsmöglichkeiten, mehr Lehrerstunden sowie Stunden für Sonderpädagogen an Schulen geben, die sich für Inklusion einsetzen.
«Es gibt Konzepte und Ideen für eine gelungene Inklusion. Nach über 15 Jahren wird es Zeit, diese endlich umzusetzen»
Der Freistaat hat seit 2011 rund 1.100 neue Stellen für die Umsetzung der Inklusion bereitgestellt, teilte das bayerische Kultusministerium mit (bei insgesamt rund 120.000 Lehrkräften im Freistaat). Ein großer Teil dieser Stellen werde mit Lehrkräften für Sonderpädagogik oder Lehrkräften zur Unterstützung von Einzelinklusion besetzt. Ebenso sei das Thema Inklusion fester Bestandteil der Lehrerbildung.
Inklusion, so meint hingegen BLLV-Präsidentin Fleischmann, dürfe kein Sparmodell sein, das auf dem Rücken von Lehrkräften an den Regelschulen durchgesetzt wird. Sie betont: «Es gibt Konzepte und Ideen für eine gelungene Inklusion. Nach über 15 Jahren wird es Zeit, diese endlich umzusetzen.» News4teachers / mit Material der dpa
Trotz (oder wegen?) Inklusion: Immer mehr Schüler mit besonderem Förderbedarf
