BERLIN. Seit Erscheinen der jüngsten IQB-Studie, die Viertklässlern in Deutschland ein drastisch gesunkenes Leistungsniveau attestiert, tobt ein erbitterter Streit um die Grundschulpädagogik. Sind die Grundschullehrkräfte schuld an dem Absturz, weil sie mit falschen Methoden unterrichten? Das hat der Philologenverband Rheinland-Pfalz in einer Pressemitteilung nahegelegt (News4teachers berichtete). Aus den Grundschulen selbst kommt energischer Widerspruch – auch im Leserforum von News4teachers. LeserIn Palim, selbst Grundschullehrkraft, wehrt sich mit einer überaus lesenswerten Replik, die wir hier noch einmal prominent veröffentlichen.
Palim, 10.07.2022 um 18:13 Uhr
Ich bin immer noch auf der Suche nach dem angeblich gesunkenen Niveau und vor allem den Spielereien, die andere in der Grundschule sehen wollen.
Wir haben mehr Leistungserhebungen als früher, zusätzlich zu Klassenarbeiten sind weitere benotete Leistungen hinzugekommen, Präsentationen, Dokumentationen, fachspezifische Leistungen – ok, einiges davon gab es zuvor auch schon, es wurde zur mündlichen Leistung gezählt. Man muss als Lehrkraft sehr genau überlegen, wie man alles unter einen Hut und in ein Schuljahr bekommt, das machen die Erstellenden der curricularen Vorgaben nämlich nicht, nicht für das eigene Fach und nicht in der Gesamtschau.
Es ist normaler, sich nicht zu kümmern. Und ja, es ist auch normaler, von anderen das Kümmern einzufordern
Warum sind die Leistungen in der Gesamtschau gesunken, wenn die Schüler:innen mehr als vorher erbringen müssen? Sind die Leistungen im Fach Sport insgesamt schlechter, wenn man nicht nur Leichtathletik macht, sondern auch Schwimmen geht? Ist es fair, Kinder dann weiterhin allein an den Leistungen in der Leichtathletik zu messen?
Der Fokus bei uns liegt auf dem, was Kinder in der Schule erbringen. Das ist bei einigen Eltern nicht beliebt, da sie dann selbst weniger Einfluss auf Mappenführung, Ausgestaltung und das Anfertigen von anderem nehmen können. Die Kinder müssen also selbst die Leistungen erbringen. Mehr Sorge habe ich allerdings mit den Kindern, bei denen niemand zu Hause überhaupt nach dem Kind guckt – und das sind viel mehr Kinder als früher. Es ist normaler, sich nicht zu kümmern. Und ja, es ist auch normaler, von anderen das Kümmern einzufordern.
Ich finde auch, dass die Leistungen im Lesen rückläufig sind, das hat aber mit Corona nur bedingt zu tun und gilt, obwohl in den Grundschulen sehr viel mehr Augenmerk auf Leseförderung gelegt wird – es reicht trotzdem nicht aus.
Ich finde erschreckend, wie viele Inhalte nicht wirklich gelernt sind, obwohl wir intensiv daran geübt haben, immer und immer wieder. Da mag die Lehrkraft in der weiterführenden Schule überlegen, was überhaupt in der Grundschule gemacht wurde. Ich weiß, was wir gemacht haben, ich weiß, dass die Leistungen erbracht wurden, und dennoch sehe ich, dass sie nach einem Jahr nicht mehr abrufbar sind. Ja, kein neues Phänomen, aber ernüchternd bei aller Anstrengung, die daraufhin längst erfolgt ist.
Allerdings kann man mit nicht erkennbaren Leistungen auch in der Grundschule keine guten Noten erhalten. Auch empfehle ich diesen Kindern nicht den Besuch des Gymnasiums, sondern bin durchaus in der Lage, andere Wege aufzuzeigen.
Ich finde erbärmlich, wie viel Unterricht ausfallen muss und durch Aufsicht + Aufgaben ersetzt wird. Es ist etwas anderes, ob eine Lehrkraft selbst in der Klasse ist oder jemand, der zwar Aufsicht führt und hier und da hilft, aber nicht den Überblick haben kann, da die Ausbildung fehlt (450€-Kräfte, keine pädagogische Ausbildung, keine Erzieher:innen, keine Studierenden, keine Quereinsteiger:innen, keine Referendar:innen).
Trotzdem will man die Inhalte schaffen, will man die Kinder dieser Klassen betreut wissen, muss man die Dokumentationen und alles andere im Kollegium verteilen, muss man die Leistungserhebungen unterbringen und zuvor aufarbeiten, was in den betreuten Stunden nicht vermittelt werden konnte. Trotz des Mangels müssen zusätzlich Inklusion und DaZ unterrichtsimmanent erfolgen – auch in der Aufsichts-Situation.
Einige Klassen waren gerade seit zwei Wochen zurück im Unterricht und waren sichtlich überfordert
Muss wegen Corona zwei Wochen die Schule geschlossen werden, weil mehr als die Hälfte der Klasse erkrankt ist und das Kollegium den Mangel an Langzeit-Vertretung und den akuten Mangel nicht mehr auffangen kann, gibt es einen Aufschrei, fallen aber über Monate wöchentlich 20-30 Prozent des Unterrichts und über Jahre alle zusätzlichen Stunden (Inklusion, DaZ, sozialer Brennpunkt, Sportförderung etc.) aus, scheint es egal zu sein.
Warum erheben diejenigen vom IQB, die in die Schulen kommen, nicht zeitgleich die Unterrichtsversorgung der vergangenen 4-8 Wochen und schreiben diese mit in ihren Bericht?
Hinzu kommt, dass ich weiß, unter welchen Bedingungen die IQB-Erhebung stattfand, einige Klassen waren gerade seit zwei Wochen zurück im Unterricht und waren sichtlich überfordert von vollen Schultagen in ganzen Klassen. Mehrstündige Tests waren für diese Kinder eine große Überforderung. Das Kultusministerium hatte aus diesem Grund die Anzahl der Klassenarbeiten gestrichen und sogar „Gespräche“ und das Aufarbeiten der Distanz- und Wechselphase gefordert. Ich halte die Ergebnisse für nicht aussagekräftig hinsichtlich der tatsächlichen Leistung am Ende des Schuljahres, nach mehreren Wochen stabilen Unterrichts.
Aus den Beobachtungen heraus aber den Schluss zu ziehen, dass in den 50er Jahren alles besser gewesen sei und die angeblichen Rezepte von damals den Erfolg unter heutigen Bedingungen bringen würden, zeugt m. E. von großer fachlicher Distanz.
Warum die Philologen aufschreien und mehr Inhalte einfordern, wenn die Verhältnisse an den Grundschulen dermaßen schlecht sind, erschließt sich mir nicht. Vielleicht wachen sie ja irgendwann noch mal auf und verstehen, dass ihre Schülerschaft an genau diesen Grundschulen beschult wird. Wer die Bildung in der KiTa und Grundschule generell nur als Spielerei ansehen will, kann nicht im gleichen Zug einen Forderungskatalog nach Inhalten eröffnen. News4teachers
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