Website-Icon News4teachers

„Sind mitten drin in der Bildungskatastrophe“: Philologen-Chef platzt der Kragen

Anzeige

HANNOVER. Niedersachsens Gymnasiallehrer fordern deutlich mehr Investitionen zur Bewältigung des Lehrermangels. «Wir sind mitten drin in der Bildungskatastrophe, und es wird immer schlimmer», sagte der Landesvorsitzende des Philologenverbands (PHVN), Christoph Rabbow, am Dienstag in Hannover. Landesweit fehlten schon heute Tausende Lehrkräfte – bundesweit Zehntausende. «Es ist wirklich so, dass wir einen ganz eklatanten Lehrkräftemangel haben.» Allein mit Quereinsteigern seien die Lücken nicht zu schließen. Und die Politik? Müsse endlich handeln. Die anstehende Landtagswahl in Niedersachsen müsse der Startschuss für ein Jahrzehnt der Bildung sein.

“Die Politik hat jahrelang verschlafen, Vorsorge zu treffen.” Illustration: Shutterstock

Die Lage sei ernst, so Rabbow. «Bundesweit sind über 30.000 Stellen unbesetzt. Und es wird in diesem Schuljahr noch bedrohlicher: Das Coronavirus ist immer noch da, der Winter steht uns noch bevor und es steht fest, dass weitere junge Menschen aus der Ukraine bei uns beschult werden müssen und sollen.» Das Institut der Deutschen Wirtschaft prognostiziere für das Schuljahr 2030/2031 bundesweit ein Fehlen von fast 70.000 Lehrkräften.

«Es wird in Niedersachsen und deutschlandweit viel zu wenig unternommen, um dem Mangel einzudämmen. Die Politik hat jahrelang verschlafen, Vorsorge zu treffen», kritisiert Rabbow. Mit dem Geburtenrückgang in den 90er Jahren seien massiv Studienplätze für das Lehramt abgebaut worden. Auch die Arbeitsbedingungen hätten sich massiv zugespitzt: Zu viel Verwaltungsarbeiten stünden zu geringe Aufstiegschancen gegenüber. «Solange Niedersachsen es sich erlaubt, 670 Lehrkräfte vor den Sommerferien zu entlassen, um sie dann zum Schuljahresbeginn erneut einzustellen, wurde nichts begriffen», so Rabbow.

Anzeige

«Die Zeit für Tricksereien mit Alimentationen und Versorgung ist vorbei. Die politische Klasse muss aufwachen und verfassungskonform handeln»

Die Bundesländer würben sich gegenseitig Lehrkräfte ab und die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU), freue sich darüber, dass Schleswig-Holstein ein „Lehrkräfteeinwanderungsland“ ist. Was als gesamtgesellschaftliche Aufgabe gesehen werden müsste, offenbare eine «ungehemmte Hemdsärmeligkeit» zwischen den Bundesländern. In ganz Deutschland müssten gleiche Bildungsverhältnisse gelten, weil sonst auch Abschlüsse nicht mehr vergleichbar sind. «Bildung muss in den Ländern endlich als Chefsache begriffen werden. Es können nicht alle Probleme in den Kultusministerien abgelegt werden. Wann erkennt man endlich, dass Bildung mehr wert ist? Wir erwarten vom zukünftigen Ministerpräsidenten und vom Finanzministerium in der nächsten Legislaturperiode ausdrücklich mehr. Die Zeit für Tricksereien mit Alimentationen und Versorgung ist vorbei. Die politische Klasse muss aufwachen und verfassungskonform handeln», fordert der Verbandschef

Aber auch die Ampelregierung in Berlin sei gefordert: «Im Koalitionsvertrag wurde versprochen, den „Grundstein für ein ‚Jahrzehnt der Bildungschancen‘“ zu legen. Nur zu! Wir brauchen ein Sondervermögen Bildung», meint Rabbow. Die staatseigene Förderbank KfW schätzt den Investitionsrückstand bei den Schulgebäuden 2021 auf bundesweit 45,6 Mrd. Euro (News4teachers berichtete). «Die anstehende Wahl in Niedersachsen muss der Startschuss für ein Jahrzehnt der Bildung sein. Wir fordern endlich Taten statt warmer Worte», so Rabbow weiter.

Die Unzufriedenheit der niedersächsischen Wahlberechtigen mit der Schulpolitik der rot-schwarzen Landesregierung sei groß. In einer repräsentativen Umfrage der niedersächsischen Tageszeitungen (Forsa) zeigten sich dem Verband zufolge zwei von drei Befragten mit der Bildungspolitik der Landesregierung «weniger» oder «gar nicht» zufrieden. Bei Befragten mit Kindern seien es sogar drei von vier Befragten. Vier von fünf Befragten verträten die Ansicht, die Schulen in Niedersachsen bereiteten die Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend auf das Leben nach dem Abschluss vor.

«Die Mehrheit der Niedersachsen teilt den Schulfrieden und lehnt ideologisch wiederkehrende Denkweisen in Schwarz-Weiß-Kategorien ab»

Eine eindeutige Meinung hätten die Niedersachsen bei der Frage nach dem Schulsystem: 58 Prozent seien für die Beibehaltung des gegliederten Systems mit Gymnasien und Real- oder Oberschulen und damit gegen eine Einheitsschule für alle Kinder nach der Grundschule, so wie sie insbesondere die Grünen in ihrem Wahlprogramm forderten. Lediglich ein Drittel der Befragten würde eine flächendeckende Einführung von Gesamtschulen nach Klasse vier begrüßen.

«Die Niedersachsen sprechen sich für das aus, was die Verbände fordern: Keine Einheitsschulen für alle, sondern eine bildungs- und begabungsgerechte, individuelle Förderung für alle Schülerinnen und Schüler. Dies setzt selbstverständlich eine schulformbezogene Lehrkräfteausbildung voraus. Die Mehrheit der Niedersachsen teilt den Schulfrieden und lehnt ideologisch wiederkehrende Denkweisen in Schwarz-Weiß-Kategorien ab. Sollten nach der Wahl ideologische Irrwege, wie „die Einheitsschule mit der Einheitslehrkraft für alle“ beschritten oder die „Vision vom Stufenlehrer“ umgesetzt werden, werden wir uns als Anwälte der Wählerschaft verstehen», stellen Rabbow und der Vorsitzende des Verbandes der Elternräte der Gymnasien Niedersachsens, Lothar Holger Fiedler, fest.

«Gleiches gilt für die Wiedereinführung der Schullaufbahnempfehlung. Diese ist weder als Herabstufung von Haupt-, Real- oder Oberschulen zu sehen, noch bedeutet dies, dass an den Gymnasien eine ‚exklusive Elite‘ herangezogen werden soll. Im Gegenteil: Jede Schulform hat ihre unangetastete Berechtigung und nur diese Vielfalt (einschließlich der entsprechend ausgebildeten Lehrkräfte!) und fachkundige Empfehlung wird den individuellen Ansprüchen der Schülerinnen und Schüler gerecht», so Fiedler weiter.

Niedersachsen hat bis 2018 die inklusive Beschulung für die Klassen 1-10 eingeführt und schafft Förderschulen ab. 45 Prozent der Befragten halten einen gemeinsamen Unterricht von allen Kindern mit und ohne Behinderung an allgemeinbildenden Schulen grundsätzlich für sinnvoll. 49 Prozent sprechen sich für die Beibehaltung von Förderschulen und damit für eine getrennte Beschulung aus. «Dieses Meinungsbild mit einer Mehrheit für den Erhalt der Förderschulen spricht eine deutliche Sprache. Der Landesregierung war der Elternwille immer äußerst wichtig, wie die Entscheidung zum Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule zeigt. Wenn der Elternwille einer zukünftigen Landesregierung wirklich wichtig ist, muss es eine Entsprechung bei der inklusiven Beschulung geben. Wer sein Kind in einer Förderschule besser gefördert sieht, muss ein entsprechendes Angebot direkt vor Ort nutzen können. Die Entsprechung des Elternwunsches diskriminiert gerade nicht», appelliert Fiedler.

«Gute Bildungspolitik hat Antworten auf ungelöste Probleme, kurzfristige Flickschusterei und bildungspolitische Schnellschüsse offenbaren dagegen fehlende Weitsicht»

Die Corona-Pandemie hat allen gezeigt, wie wichtig der Präsenzunterricht für die Schülerinnen und Schüler ist. Dies haben verschiedene Studien gezeigt, jüngst die Bildungsstudie der Robert-Bosch-Stiftung, die auch Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern vor und während der Pandemie in den Blick genommen hat. Niedersachsens Wähler sehen dies genauso. Eine Mehrheit von 52 Prozent lehnt die Einführung einer Vier-Tage-Schulwoche, bei der am fünften Tag nicht in der Schule, sondern zu Hause gelernt wird, ab.

«Auch eine Kürzung von Fachunterricht wie zuletzt in Berlin gefordert oder Stilblüten wie ein Referendariat ohne Prüfung in Mecklenburg-Vorpommern lösen das gravierende Problem des Lehrkräftemangels ebenso wenig wie eine schulstufenbezogene Lehrerausbildung. Statt immer neuer Kuriositäten brauchen wir tiefgreifende Antworten. Man muss das Problem schon an der Wurzel anpacken und dazu haben wir mit einem von uns geforderten Bildungsministerium, in dem beide Phasen der Lehrkräfteausbildung (Studium und Referendariat) koordiniert und organisiert werden, einen tragfähigen Lösungsvorschlag unterbreitet. Nur so kann mittel- bis langfristig der Lehrkräftemangel behoben werden. Gute Bildungspolitik hat Antworten auf ungelöste Probleme, kurzfristige Flickschusterei und bildungspolitische Schnellschüsse offenbaren dagegen fehlende Weitsicht», stellt Rabbow abschließend klar. News4teachers / mit Material der dpa

Klatsche für die Kultusminister – Corona-Sachverständige: „Im Bereich der Schulen hat sich wenig getan“

 

 

 

Anzeige
Die mobile Version verlassen