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edu:regio-Debatte: Integration – “Wir brauchen mehr Diversität im Lehrerzimmer!” (meint der Sozialaktivist Ali Can)

DÜSSELDORF. Die Silvester-Krawalle und Friedrich Merz‘ „Pascha“-Kinder-Aussage, News4teachers berichtete, haben das Thema Integration in Schulen zuletzt wieder hochkochen lassen. Unreflektiert blieb dabei bislang die andere Seite: Rassismus-Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Sozialaktivist und Autor Ali Can rückt durch seine Aktionen das Thema Alltagsrassismus immer wieder in den Fokus. Im Vorfeld der edu:regio – wo er vor zahlreichen Lehrkräften auftritt – erzählt er von seinen persönlichen Erfahrungen und erklärt, wie Schulleitungen mit dem Themenkomplex Migration und Rassismus umgehen können.

Macht Alltagsrassismus zum Thema: Ali Can. Foto: Alex Kleis

News4teachers: Sie wollten eigentlich Lehrer werden, haben aber kurz vor der Examensprüfung das Studium auf Eis gelegt, weil Sie während des Praktikums eine rassistische Erfahrung in einer Schule gemacht haben. Sie haben das in Ihrem Buch „Mehr als eine Heimat“ ausführlich beschrieben. Auch, dass weder Sie noch die Schüler:innen Hilfe bekommen haben in der Situation…

Die edu:regio feiert in Düsseldorf Premiere

Lehrkräfte, aufgepasst! Informative Vorträge aus der Praxis, Gespräche mit Tiefgang, ein individuelles Fortbildungsprogramm und eine fachliche Ausstellung mit einem Schwerpunkt auf digitale Bildungsmedien – eigens für Sie (und alle anderen, die für Schule Verantwortung tragen): Das ist die edu:regio, ein pädagogisches Großevent, das am 10. und 11. Februar in Düsseldorf Deutschland-Premiere feiert.

3.000 Besucherinnen und Besucher werden erwartet – und prominente Gäste: Am 10. Februar 2023 ist zum Beispiel Ali Can zu Gast auf der edu:regio. Das komplette Programm und Tickets gibt es hier: www.edu-regio.de/duesseldorf-2023.

Ali Can: Ja, richtig. Ich war damals mit einer Flüchtlingsklasse im Sportunterricht. Die Kinder sprachen kaum Deutsch. Von einer anderen Klasse wurden sie beschuldigt, etwas gestohlen zu haben und es entstand ein Tumult, in den ich als Übersetzer eingegriffen habe, um die Kinder zu beruhigen und ihnen die Angst zu nehmen und auch, um physische Gewalt zu verhindern. Damit hatte ich meine Rolle als Hospitant verlassen, das war für die begleitende Lehrkraft und die Schule ein Tabu. Unter anderem weil ihnen eine Grundsensibilisierung fehlte – obwohl das damals an einer sogenannten „Schule ohne Rassismus“ passierte.

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News4teachers: Könnten Sie erklären, was Sie mit „Grundsensibilisierung“ meinen?

Can: Hätte ich damals erste Hilfe geleistet, weil ein Kind gerade keine Luft bekommen hätte, dann wäre das selbstverständlich gewesen. Wenn Rassismus passiert, wird aber oft nicht verstanden, welche Auswirkungen das auf die betroffenen Kinder hat. Das hat unter Umständen eine traumatische Dimension – und wird immer noch bagatellisiert.

Deshalb ist es sehr wichtig, die Lebensrealität dieser rassifizierten Kinder zu kennen, die in der Regel einem großen Kräftefeld ausgesetzt sind. Auf der einen Seite sind da die Eltern, die Druck machen, die viel erwarten, gerade wenn sie neu nach Deutschland gekommen sind. Sie sehen die Möglichkeiten, die ihre Kinder haben, können aber beispielsweise keine Nachhilfe geben und haben auch nicht die Mittel für außerschulische Förderung. Dann sind da die Lehrkräfte, die nur ein begrenztes Kontingent an Zeit und Kraft haben und mehr tun, als sie vielleicht eigentlich als Auftrag hätten. Das heißt, den Kindern wird immer wieder signalisiert, sie seien schwierig. Wenn sie dann noch Rassismus erleben und ausgegrenzt werden, dann macht das was mit der Persönlichkeit und hat Einfluss auf die Noten.

News4teachers: Sie haben also schon im Studium eine Vorahnung davon bekommen, was schwierig sein kann an einer Schule, wenn es zum Thema Rassismus kommt.

Can: Richtig. Angefangen damit, dass das, was ich gesagt habe, nicht ernst genommen wurde. Und im Endeffekt hat mich das gebremst, Lehrer zu werden – und mich dazu gebracht, mit sozialen Projekten mehr gegen Rassismus zu tun.

News4teachers: Sie hatten damals schon damit begonnen, sich für interkulturelle Sensibilisierung zu engagieren. Als „Asylbewerber Ihres Vertrauens“ bei den Pegida-Demos sind Sie dann so richtig bekannt geworden.

Can: Genau. Ich bin damals im März 2016 in den Osten Deutschlands gereist und habe bei den Demos immer wieder Menschen interviewt, um herauszufinden, was man tun kann, um Berührungsängste abzubauen. Ich habe mich unter die Leute gemischt. Und weil das nicht immer ging, habe ich dann ein Bürgertelefon, die „Hotline für besorgte Bürger“, ins Leben gerufen. Die Resonanz darauf war so groß, dass ich gebeten wurde, Seminare zu geben, Bücher zu schreiben et cetera. Das hat mir den Weg geebnet, mehr zu tun.

News4teachers: Für Ihr mutiges Engagement sind Sie erst kürzlich mit dem Bundesverdienstorden geehrt worden. Neben ihren ehrenamtlichen Projekten führen sie auch Lesungen, Workshops, Pädagogische Tage und Projekttage an Schulen durch. Was raten Sie Schulleitungen und Lehrkräften, wie sie mit dem Thema Rassismus umgehen sollten?

Can: Man kann sich zum einen die Frage stellen: Wie sieht in einer Institution Schule die Möglichkeit aus, dass hauptamtliche Schulakteur*innen ernsthaft zuhören und dem nachgehen, wenn Rassismus passiert? Welche Anlaufstellen haben sie und die Betroffenen? Das wäre der erste Punkt. Es gibt die Möglichkeit, die Schule nach außen zu öffnen und mit einer Organisation zusammenzuarbeiten, die unterstützt und berät. Auch eine Sozialarbeiter*in kann gemeinsam mit der Schulleitung eine Brücke zwischen professionellen, außerschulischen Hilfen und Schule bauen.  Das Wichtigste überhaupt ist aber, sich in der Schulgemeinschaft zu fragen: Was machen wir, wenn Rassismus bei uns geschieht? Die Eltern beispielsweise mit einbeziehen, den Vorfall protokollieren, eine Beratung heranziehen beziehungsweise den Weg zu einer Beratung ebnen. Und das muss transparent gemacht werden.

Also weg von diesem: Wir haben bei uns keinen Rassismus. Denn dann wird das ein Nischenthema. Stattdessen sollten Schulleitungen das Thema wirklich in die Breite holen. Und dann kann man sich immer noch die Freiheit nehmen, Dinge nicht richtig zu kennen, nicht gut zu wissen, Fehler zu machen. Das ist völlig in Ordnung. Solange man das transparent macht, finde ich, ist es für alle Seiten das Beste.

News4teachers: Es gibt seit einiger Zeit Bemühungen mehr Lehrkräfte mit sogenanntem Migrationshintergrund in die Schulen zu bringen. Sollte das Lehrerzimmer diverser sein?

Can: Ja, auf jeden Fall sollte es mehr Lehrkräfte geben, die nicht Deutsch als Erstsprache haben. Schule soll befähigen zum Leben, zur Orientierung, berufsfähig machen. Schule hat also sehr viele Aufträge, die über das klassische Wissenherantragen hinausgehen. Und ein wichtiger Punkt ist, die Menschen so zu fördern, dass sie später nicht nur einen Beruf finden, arbeiten und glücklich sind, sondern auch in der Gesellschaft etwas beitragen, ihren Platz finden.

Wir erleben gerade, dass geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand gehen. Schon jetzt gibt es einen riesigen Fachkräftemangel in vielen Branchen. Und gleichzeitig sind in den letzten sechs Jahren bereits zwei Millionen Menschen aus Syrien und den Binnenländern nach Deutschland bekommen. Jetzt ist doch die große Frage: Wie schaffen wir es, dieses Potenzial zu entfalten, sodass die Menschen hier heimisch werden und gleichzeitig auch noch wichtige Berufe ergreifen? Das kann nur passieren, wenn vorher Migration nicht als Defizit, sondern auch als etwas Positives gesehen wird. Wir sollten also schauen, was die Menschen mitbringen.

Und das wiederum führt dazu, dass wir unsere Lehrkräfte auch divers brauchen, weil sie die Lebenswelten gut kennen und Mulitiplikator*innen und Brückenbauer*innen sind. Wenn ich bei der Verwaltung, beim Ordnungs- oder Finanzamt beispielsweise immer nur die Namen Schmidt und Meier sehe, dann hat das etwas sehr Distanziertes. Denn ich bin in einer fremden Gesellschaft, ich bin in der Diaspora und hinter den reglementierenden Organen einer Stadt steht immer auch eine bestimmte Art und Weise steht zu reden, zu schreiben. Wenn mir dann auch noch das Gesicht nicht vertraut ist oder der Name oder man keine andere Ebene finden kann, dann gehe ich da nicht hin. Also Repräsentation zählt, gerade auch in der Schule.

Das Zweite ist, dass man davon wegkommen muss, Migration als etwas Externes zu betrachten. Die ganze Menschheitsgeschichte ist eine Migrationsgeschichte. Bisher gilt aber das Konstrukt „Wir Deutschen und die Migrierten“, weil man halt davon ausgeht, dass „wir“ immer alle gleich sind. So als ob die Person aus Niederbayern genauso ist wie jemand aus dem Ruhrgebiet. Lehrkräfte können dieses Bild aufbrechen. Wenn es also im Lehrerzimmer schon Ansprechpersonen mit unterschiedlichen Erfahrungsschätzen gibt, die neue Geschichten erzählen, dann kommen wir zu einer neuen Normalität, und dann werden auch gewisse Rassismen weniger werden. Aber dafür muss man auch das Wissen, das sie haben, als Kompetenz betrachten.

News4teachers: Heißt das, Lehrkräfte mit nicht-deutschen Namen sollten sich dann auch um das Thema Rassismus kümmern?

Can: Nein. Schulleitungen und Lehrkräfte greifen gerne mal auf die türkischsprachige Kollegin oder den arabischsprachigen Kollegen zurück, wenn es um das Thema geht. So als wäre es eine ganz kleine Sache, die sie mal eben nebenbei machen. Das ist nicht wertschätzend und wird der Sache nicht gerecht. Es ist eine Profession, Migrationssensibilität und Rassismuskritik zu vermitteln. Dazu sind sehr viel Wissen, Fingerspitzengefühl und Empathie erforderlich und es verlangt viel ab. Dazu muss man definitiv mehr Raum bereitstellen.

News4teachers: Lassen Sie uns noch mit einem Vorurteil aufräumen: Sie heißen Ali, setzen sich für das Bildungsprojekt „Gemeinsame Vergangenheit – Gemeinsame Zukunft“ des Berliner Museums für Islamische Kunst ein, aber Sie sind kein Moslem.

Can: Richtig. Ich bin alevitisch sozialisiert und nicht religiös. Und ja, ich bin muslimisch gelesen. Wenn ich gerade einen Bart trage, erst recht. Noch dazu komme ich aus einem türkeistämmigen Haushalt, aus einem Land, das muslimisch geprägt ist. Antimuslimischer Rassismus ist bei mir also trotzdem ein Riesenthema. Und ich setze mich dafür ein, dass dieses Thema gestärkt wird, weil Muslime in den letzten Jahren zu einer großen Projektionsfläche von Fremdzuschreibung geworden sind. Sonja Mankowsky, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

Zur Person

Ali Can (geb. 1993) engagiert sich als Sozialaktivist, Autor und Diversity-Trainer gegen Rassismus und Gewalt. International bekannt wurde er vor allem als Initiator der „Hotline für besorgte Bürger“ sowie der #MeTwo-Kampagne auf Twitter. Zehntausende Menschen berichteten seither unter diesem Hashtag von ihren Rassismuserfahrungen – viele davon im schulischen Kontext (News4teachers berichtete darüber – hier nachzulesen).

Can immigrierte mit seinen Eltern 1995 aus dem Südosten der Türkei nach Deutschland. Nach seinem Lehramtsstudium (Deutsch und Ethik) in Gießen gründete er unter anderem das VielRespektZentrums in Essen. Für sein Engagement wurde Can mehrfach ausgezeichnet – 2022 mit dem Bundesverdienstorden. Sein aktuelles Buch “Mehr als eine Heimat. Wie ich Deutschsein neu definiere” erschien im Dudenverlag. Mehr zu Ali Can: www.ali-can.de.

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