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Debatte um Schulstruktur: Grüne wollen sechsjährige Grundschule für alle Kinder – wie sinnvoll wäre eine solche Reform?

BERLIN. Die Grünen in Berlin – ohne die in der Bundeshauptstadt kaum ein Regierungsbündnis zustande kommen wird (sie liegen laut aktuellen Umfragen bei rund 20 Prozent) – haben die Schulstruktur zum Wahlkampfthema erhoben: Sie wollen die sechsjährige Grundschule für alle Schülerinnen und Schüler obligatorisch machen, also auch für Gymnasiasten. Sie gibt es bundesweit sonst nur in Brandenburg. Der Bildungsforscher Hans-Günter Rolff hält eine solche Reform für sinnvoll. Bundesweit.

Sind sechs Grundschul-Jahrgänge besser als vier? Foto: Shutterstock

Schulstruktur ist ein heikles Thema in Deutschland, an dem schon Landesregierungen gescheitert sind. Umso überraschender ist das, was die Grünen in Berlin in ihrem Wahlprogramm ankündigen. Nämlich: „Wir wollen eine neue Kultur des Lernens, in der nicht Defizite, sondern stärkenorientiertes Lernen und kognitive sowie soziale Fähigkeiten im Mittelpunkt stehen. Körperliche und psychische Gesundheit sind zentrale Ressourcen für Leistungsfähigkeit, Lebensqualität und soziale Teilhabe, die wir stärken wollen. Und wir wollen Klassen, die die Vielfalt unserer Gesellschaft abbilden.“

Dafür benötigen die Schulen laut Wahlprogramm „ausreichend und gut ausgebildetes
Personal, eine stärkende und Spaß machende Lernkultur und natürlich gute Bedingungen – das gilt für Gebäude ebenso wie für gutes Essen am Mittag, eine Vernetzung in den Kiez und digitales Lernen.“ Und: eine neue Struktur. „Unsere Vorstellung von Schule lässt sich am besten umsetzen, wenn Kinder so lange wie möglich zusammen lernen. Darum ist unser Ziel die ‚eine Schule für alle‘ – langes gemeinsames Lernen in vielfältigen Gemeinschaftsschulen, in denen schnell lernende, leistungsstarke Schüler*innen genauso gefördert werden wie Schüler*innen mit besonderen Förderbedarfen.“

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Erster konkreter Schritt: die sechsjährige Grundschule obligatorisch einführen. „Wichtig ist uns, dass kurze Beine kurze Wege haben. Damit kommen in vielfältigen Kiezen Kinder aus ganz unterschiedlichen Familien in einer Grundschule zusammen, beeinflussen und bereichern einander. Sechs Jahre gemeinsame Grundschulzeit wollen wir verbindlich für alle Kinder gleichermaßen verankern.“ Zwar gibt es die sechsjährige Grundschule schon jetzt in Berlin. Bislang können leistungsstärkere Kinder aber schon zur Klasse 5 auf eines der 32 grundständigen Gymnasien in der Stadt wechseln.

„Die Grundschule ist in hochentwickelten Ländern außer in Deutschland nur noch in Österreich und Slowenien vierjährig. Der Weltstandard ist die sechsjährige Primarschule“

Eine verbindliche sechsjährige Grundschule wäre sinnvoll, bundesweit – meint Prof. em. Hans-Günter Rolff, Gründungsdirektor des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. Mit Blick auf die Ergebnisse der IQB-Studie (der zufolge die Leistungen der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland in fast allen Bundesländern nachgelassen haben), sagt er: „Wir brauchen eine Transformation“.

Aber warum soll eine Schulform vergrößert werden, die schon jetzt mit enormen Schwierigkeiten wie dem Lehrermangel zu kämpfen hat. Einzelmaßnamen wie mehr Frühförderung und mehr Unterstützung beim Sprachen- und Lesenlernen seien auf jeden Fall sinnvoll, meint Rolff – aber sie genügten eben nicht. „Die Wirkung liegt im Zusammenwirken.“

Er betont: „Die Grundschule ist in hochentwickelten Ländern außer in Deutschland nur noch in Österreich und Slowenien vierjährig. Der Weltstandard ist die sechsjährige Primarschule.“ Sie habe gegenüber der vierjährigen Grundschule etliche Vorteile, die auch zu besseren Schülerleistungen führen könnten, vermutlich sogar Voraussetzung dafür seien. Konkret: „Der Übergang von der eher pädagogisch orientierten Grundschule zu den eher fachlich orientierten Sekundarschulen geschieht nicht als Bruch zwischen zwei deutlich getrennten Schulstufen, sondern innerhalb einer Schule, was ihn organischer und vermutlich auch gerechter macht.“

Auch aus Lehrersicht bieten sich Rolff zufolge Vorteile: „„Im 5. Und 6. Schuljahr beginnt der eigentliche Fachunterricht. Für die Fächer bzw. Fächergruppen könnten arbeitsfähige Fachkonferenzen gebildet werden, die es vereinzelt auch heute schon gibt, aber mit zu wenig Mitgliedern und zu wenig fachlich.“ Ein weiterer Punkt: „Die Vorsitzenden der Fachgruppen könnten die Schulleitungen erweitern und damit entlasten. Fachgruppen wären auch für etliche Lehrpersonen attraktiv und würden damit den Lehrermangel zu verkleinern helfen.“ Viele Grundschulleitungen seien heute nicht besetzt, zum Teil schon jahrelang. „Sie sind einfach nicht attraktiv genug, schon gar nicht, wenn Schulleiterinnen und Schulleiter auch noch eine Klasse führen müssen und die Digitalisierung Einzug hält.“ Sechsjährige Grundschulen böten als größere Einheiten mehr Perspektiven.

Und was ist mit dem Argument, dass die Grundschulgebäude nicht für sechs Jahre ausgelegt sind? Möglicherweise seien „geringfügige Baumaßnahmen“ nötig, so Rolff. Allerdings müssten zu Zeiten digital gestützten Unterrichts die Räume ohnehin flexibilisiert werden, damit eine intelligentere Raumnutzung mit weniger Wänden mehr Platz biete. Der Wissenschaftler zeigt sich optimistisch: „Es gibt jetzt ein Zeitfenster, die sechsjährige Primarschule tatsächlich einzuführen.“

Berlin könnte der erste Dominostein werden. Allerdings: Die potenziellen Koalitionspartner der Grünen – SPD und CDU – haben bereits ihren Widerstand gegen das Ansinnen angekündigt. News4teachers / mit Material der dpa

GEW: Inklusion benötigt veränderte Strukturen im Bildungssystem – letztlich Gemeinschaftsschulen

 

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