DÜSSELDORF. Wie kann Inklusion an Deutschlands Schulen trotz Personalmangel und der damit einhergehenden Überforderung der Lehrkräfte gelingen? Damit beschäftigt sich die neue Folge der News4teachers-Podcast-Reihe „Schulschwatz! Der Bildungstalk“. Darin sprechen das Moderatorenteam Andrej Priboschek und Prof. Ines Oldenburg mit der Inklusionsforscherin Prof. Conny Melzer. Zumindest ein gewichtiges Vorurteil räumt die Runde ab.
Im Rahmen der Veröffentlichung der letzten IQB-Studie ist eine Diskussion zum Thema Inklusion an Deutschlands Schulen entbrannt. Der Anlass: Karin Prien, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein und damalige KMK-Präsidentin hatte erklärt, dass der Leistungsabsturz der Grundschülerinnen und Grundschüler auch durch die voranschreitende Inklusion verursacht worden sei. Conny Melzer und drei Wissenschaftler-Kollegen schrieben daraufhin eine Entgegnung im „Spiegel“.
Im Podcast darauf angesprochen, kontert Conny Melzer: „Frau Prien trifft hier zwei Aussagen. Erstens: Die Inklusion schreitet voran. Zweitens: Das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf hat negative Auswirkungen auf das Leistungsniveau aller Schülerinnen und Schüler. Diese Aussagen sind schlichtweg falsch.“ Conny Melzer muss es wissen: Sie ist Professorin für inklusive Bildung unter besonderer Berücksichtigung sonderpädagogischer Lernförderung an der Universität Leipzig – und befasst sich in ihrer Forschung unter anderem mit den Gelingensbedingungen für inklusiven Unterricht.
Ines Oldenburg stellt eingangs fest, dass die voranschreitende Inklusion meist negativ konnotiert sei. Die unterschiedliche Klassenzusammensetzung würde in vielen Fällen als Belastung wahrgenommen. Dass es zu schwierigen Situationen im Unterricht kommen könne, streitet die ehemalige Grundschulleiterin nicht ab. Viel zu wenig allerdings werde über gelingende Beispiele gesprochen. „Dabei ist Inklusion doch eine Erfolgsgeschichte“ – meint Oldenburg, selbst Didaktik-Professorin am Institut für Pädagogik der Universität Oldenburg, mit Blick darauf, dass sich die Perspektiven für Kinder mit Behinderung deutlich verbessert haben (weil sie nicht mehr zwangsweise auf Sonderschulen geschickt werden).
„Es ist noch unklar, aus welchem Grund die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf zugenommen hat. Diesen Umstand müssen wir noch erforschen”
Ist sie das? Conny Melzer berichtet, dass bis vor Kurzem tatsächlich wachsende Zahlen von Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf an Regelschulen zu verzeichnen waren. Gleichzeitig nahm aber die Zahl der Schülerinnen und Schülern an den Förderschulen nicht ab. Die Trendwende begann sich im vergangenen Jahr abzuzeichnen – zurück in Richtung Segregation: Auch die Zahl der Schülerinnen und Schüler an Förderschulen steigt seitdem wieder, so Conny Melzer.
„Es ist noch unklar, aus welchem Grund die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf zugenommen hat. Diesen Umstand müssen wir noch erforschen“, erläutert sie. Das Problem sei, dass es nur schlechte Vergleichsmöglichkeiten gebe, da die Feststellungsverfahren von Bundesland zu Bundesland und auch von Schulamt zu Schulamt unterschiedlich seien. Ines Oldenburg fügt hinzu, dass es überhaupt unklar sei, nach welchen Kriterien ein Kind oder Jugendlicher zu einem Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf erklärt wird – es gibt in Deutschland eben keine einheitliche Praxis.
Und wie steht es mit der Behauptung, dass das Leistungsniveau aufgrund der Inklusion gesunken sei? Conny Melzer berichtet von ihren Untersuchungen, die die Auswirkungen von Inklusion auf die Leistungen aller Schülerinnen und Schüler von Schulklassen untersuchten. „Die Studien zeigen, dass das Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler ohne Förderbedarf nicht abgesunken ist“, erläutert Conny Melzer. „Einige der Studien zeigen sogar, dass die Inklusion einen positiven Einfluss auf die Kinder und Jugendlichen hat. Die Inklusion hält die Schülerinnen und Schüler ohne Förderbedarf grundsätzlich nicht vom Lernen ab.“
Dennoch gibt es viele Klagen von Lehrkräften darüber, dass zum Beispiel verhaltensauffällige Kinder in der Lage sind, den Unterricht zu sprengen und somit den Unterrichtsplan in kürzester Zeit torpedieren können. Diesen Umstand bestätigt auch Ines Oldenburg aus ihrer eigenen Erfahrung als Grundschullehrerin. Auch Conny Melzer streitet nicht ab, dass es Probleme mit Schülerinnen und Schülern im sozial-emotionalen Bereich geben kann.
„Ich plädiere dafür, dass bessere Bedingungen geschaffen werden, um Inklusion möglich zu machen“
Dennoch dürfe die Inklusion nicht generell verteufelt werden, sondern sie sei differenziert zu betrachten. Die Bedingungen an den Schulen seien aufgrund der schlechten Ressourcen-Ausstattung, des Fachkräftemangels und der vielen Bürokratie schlecht. Das dürfe aber nicht dazu führen, dass die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf völlig außer Acht gelassen werde. „Ich plädiere dafür, dass bessere Bedingungen geschaffen werden, um Inklusion möglich zu machen“, betont Conny Melzer.
„Dazu müssen beispielsweise Fachkräfte gewonnen werden. Das Thema Inklusion muss aber auch im Lehramtsstudium eine größere Rolle spielen. Kleinere Schulklassen sind ebenfalls sinnvoll.“ Wichtig sei es zudem, dass in den Klassen gut ausgebildete Lehrkräfte tätig seien, so Melzer weiter. In Krisensituationen müsse auch eine Doppelbesetzung in der Klasse erfolgen.
Ines Oldenburg sieht eine gute Chance, Quereinsteigerinnern und Quereinsteiger für eine solche Lernassistenz zu gewinnen. „Es gibt viele gut qualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Berufsgruppen, die Lust aufs Unterrichten und den täglichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben. Das Lehramtsstudium als Voraussetzung für diese Tätigkeit schreckt sie allerdings ab und das ist sehr schade. Für die Kinder und Jugendlichen ist es von Vorteil, wenn sie in ihrer schulischen Laufbahn viele unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Sichtweisen kennenlernen.“
Conny Melzer wirbt für multiprofessionelle Teams an den Schulen. Diese sollten aus gut qualifizierten Lehrkräften mit hohem Fach- oder sonderpädagogischem Wissen bestehen – plus Handwerker oder IT-ler, um die Schülerinnen und Schüler gut aufs Berufsleben vorbereiten zu können. Beide Professorinnen plädieren im News4teachers-Podcast aber auch für mehr Fortbildungen. Die Lehrkräfte sollten die Möglichkeit bekommen, ihre fachliche Expertise weiterentwickeln zu können. Dies sei aber nur möglich, wenn die Fortbildungen zu adäquaten Zeiten angeboten würden und nicht ausschließlich im Urlaub oder nach Feierabend absolviert werden müssten.
„Entscheidend ist, dass wir Werbung für den Lehrerberuf machen und zeigen, wie erfüllend diese Tätigkeit ist“, erläutert Conny Melzer. „Damit können wir schon sehr früh anfangen. Warum nicht schon im Schülerpraktikum? Dann können die Jugendlichen die Schule aus einer anderen Perspektive erleben.“ Denn eins ist klar, darin sind sich die Diskutierenden einig: Ohne genügend Pädagoginnen und Pädagogen wird die Inklusion in der Fläche kaum gelingen. Nina Odenius, Agentur für Bildungsjournalismus
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