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FDP will (angeblich) Geld lieber für Schulen als gegen Kinderarmut ausgeben – verzögert aber selbst die Schulprojekte der Ampel

BERLIN. Die FDP tritt im Koalitionsstreit um die Kindergrundsicherung eine Grundsatzdebatte los: Ist es besser, Geld für Schulen auszugeben – als Sozialleistungen zu erhöhen? Sozialverbände zeigen sich empört. Man müsse das eine tun, ohne das andere zu lassen, sagt etwa VBE-Chef Brand. Derzeit tun die Liberalen weder das eine noch das andere: Sie bremsen bei der Bekämpfung der Kinderarmut. Und das FDP-geführte Bundesbildungsministerium kommt bei den Schulprojekten der Bundesregierung nicht in die Gänge.

Könnte mit seinem Engagement für die Bildung glaubwürdiger sein: FDP-Chef Christian Lindner (hier mit seiner Frau Franca Lehfeldt vor dem Staatsbankett für König Charles III. in Schloss Bellevue). Foto: Shutterstock / Heide Pinkall

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erntet für seine Aussage zu Kinderarmut in Deutschland massive Kritik von Sozialverbänden. «Ich halte es für unsäglich, wenn der Finanzminister nun anfängt, arme Kinder aus Deutschland auszuspielen gegen die Kinder, die mit ihren Familien aus der Ukraine zu uns flüchten mussten», sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, der «Stuttgarter Zeitung» und den «Stuttgarter Nachrichten». Rückendeckung erhält der FDP-Chef aus seiner eigenen Partei.

Lindner hatte Zweifel am Konzept der Kindergrundsicherung von Familienministerin Lisa Paus angemeldet, mit der die Grünen-Politikerin Leistungen für Familien zusammenfassen und zugleich erhöhen will. «Es gibt einen ganz klaren Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kinderarmut», sagte der FDP-Politiker am Dienstag dem Radiosender Bayern 2.

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«Ist nicht diskussionswürdig, die Kitas und Schulen für die Kinder so auszustatten, dass sie vielleicht das aufholen können, was die Eltern nicht leisten können?»

Er wolle gerne diskutieren, wie man diesen Kindern und Jugendlichen am besten helfen könne. «Hilft man ihnen am besten dadurch, dass man den Eltern mehr Geld aufs Konto überweist?», fragte er bereits am Sonntag. «Oder ist nicht vielleicht mindestens diskussionswürdig, in die Sprachförderung, Integration, Beschäftigungsfähigkeit der Eltern zu investieren und die Kitas und Schulen für die Kinder so auszustatten, dass sie vielleicht das aufholen können, was die Eltern nicht leisten können?» Lindner bekräftigte am Dienstag: «Jedenfalls bin ich nicht davon überzeugt, dass einfach mehr Geld an die Eltern zu geben, zwingend die Chancen von Kindern und Jugendlichen verbessert.»

Schneider sagte dazu, natürlich brauche es für diese Familien besondere Angebote und es sei auch richtig, dass Eltern befähigt werden sollten, in Arbeit zu kommen. «Das darf doch aber kein Argument sein, um Kinder in Armut zu belassen».

Der Chef des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand, sprach von einem «Affront gegen von Armut betroffene Kinder». Die individuelle finanzielle Absicherung von Kindern gegen die «Beschäftigungsfähigkeit» ihrer Eltern auszuspielen, werde dem akuten Problem nicht gerecht. «Kindergrundsicherung versus Sprachkurs: So einfach ist eben nicht. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen.» Dass mehr Geld direkt an die Schulen fließen sollte, um die individuelle Förderung der Kinder sicherzustellen, sei  unabdingbar. «Dann braucht es aber auch zusätzliches Personal an den Schulen, was sich hierum kümmern kann.»

Um Armut zu bekämpfen, müsse an verschiedenen Stellen angesetzt werden, so Brand – auch bei bürokratischen Hürden. Mit den Geldern der Leistungen für Bildung und Teilhabe (BuT), auch Bildungspaket genannt, können zum Beispiel zwar schon jetzt Nachhilfe, das Erlernen eines Instruments oder die Mitgliedschaft im Sportverein sowie die Teilnahme an schulischen Ausflügen oder Fahrten bezahlt oder bezuschusst werden. «In der Praxis sehen wir aber, dass das Abrufen der Mittel zäh lief, da die Existenz dieser Möglichkeit in der Zielgruppe nicht allen bekannt war. Zum anderen brauchten viele Unterstützung bei dem Abrufen der Gelder, da der Antragsprozess nicht trivial ist.»

Wenn zusätzlich auf individueller Ebene mehr Geld zur freien Verfügung steht, sei es noch gezielter möglich, Lernsituationen außerhalb vorgegebener Pfade zu ermöglichen. «Das neue Buch und der Trainingsanzug oder schlicht die Aufwendungen, um im Freundeskreis in gleicher Form an Aktivitäten teilnehmen zu können – all das können sich Kinder aus armen Haushalten sonst nicht leisten.» Das größte Armutsrisiko sei, so Brand, alleinerziehend zu sein: 43 Prozent der Ein-Eltern-Familien gelten als einkommensarm.

Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigen allerdings tatsächlich auch einen Anstieg der Zahl ausländischer Kinder, die Hartz IV oder Bürgergeld erhalten. Während ihre Zahl im Dezember 2010 bei rund 305.000 lag, waren es im Dezember 2022 rund 884.000. Nach Angaben der BA erhielten im März 2023 als größte Gruppe rund 275.500 ukrainische Kinder und Jugendliche Bürgergeld. Die mit Abstand zweitgrößte Gruppe waren Kinder und Jugendliche aus Syrien. Anders als Asylbewerber erhalten ukrainische Kriegsflüchtlinge unmittelbar Zugang zum deutschen Sozialsystem, was den zuletzt sprunghaften Anstieg erklärt. Der Trend zeigte sich aber schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine etwa bei syrischen Flüchtlingen.

Die BA-Zahlen gehen zurück auf eine AfD-Anfrage. Daraus geht auch hervor, dass in der Zeit von 2010 bis 2022 die Zahl von Kindern und Jugendlichem mit deutschem Pass, die die entsprechenden Sozialleistungen erhielten, gesunken ist: und zwar von rund 1,37 Millionen im Dezember 2010 auf rund 895 000 im Dezember 2022. Der Wert für März 2023 liegt nach BA-Angaben bei 1,02 Millionen.

«Wir haben trotz zahlreicher Maßnahmen in der Vergangenheit ein gleich hohes Niveau von deutschen Kindern in Armut»

Die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dagmar Schmidt, wirft dem Finanzminister eine Fehleinschätzung vor. «Herr Lindner irrt, wenn er die Kinderarmut auf zugewanderte Familien z.B. aus der Ukraine und Syrien reduziert. Wir haben trotz zahlreicher Maßnahmen in der Vergangenheit ein gleich hohes Niveau von deutschen Kindern in Armut», sagte sie. «Selbstverständlich benötigen wir mehr Investitionen in Schulen, Kitas und soziale Einrichtungen vor Ort. Hierzu haben wir in der Ampel noch einiges vor und freuen uns dabei auf die Unterstützung des Finanzministers.» Neben diesen Investitionen bedürfe es für die soziale Teilhabe aber auch eines angemessenen Geldbetrags, mit dem beispielsweise das Geschenk für einen Kindergeburtstag oder die Fußballschuhe gekauft werden könnten.

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sagte am Montagabend im WDR: «Keiner würde bezweifeln, dass eine Integration in den Arbeitsmarkt die beste Methode ist, dass Eltern gut verdienen, dass ihre Kinder nicht in Armut leben.» Zugleich machte er deutlich, dass dies ein längerer Prozess sei, von Armut betroffene Kinder aber jetzt Lösungen bräuchten und nicht erst in einigen Jahren.

Das DIW hatte in der vergangenen Woche gemeinsam mit der Diakonie Deutschland eine Studie zu den Folgen von Kinderarmut vorgestellt. Armutsbetroffene Kinder haben demnach ein höheres Risiko, gesundheitliche Probleme zu bekommen und arbeitsunfähig zu werden als Kinder aus ökonomisch starken Familien (News4teachers berichtete).

Unterstützung erhält Lindner aus der FDP. «Höhere Sozialleistungen an die Eltern können doch nicht die Lösung sein, sondern wir müssen das Problem an der Wurzel packen», sagt Fraktionschef Christian Dürr. Da habe Lindner völlig recht. «Deswegen ist es richtig, über mehr zielgerichtete Investitionen in Sprachförderung, Schulen und Kitas zu sprechen, statt über neue Sozialleistungen.»

«Jetzt muss es darum gehen, Kinder nachhaltig aus Armut zu holen. Das wird nicht mit höheren Transferzahlungen, sondern nur mit besserer Bildung gerade für sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler gelingen», sagt Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). Pikant in diesem Zusammenhang: Das Startchancen-Programm, mit dem die Bundesregierung Schulen in sozialen Brennpunkten unterstützen will, lässt nach wie vor auf sich warten – genauso wie der im Koalitionsvertrag verprochene Digitalpakt Schule 2.0 (News4teachers berichtete auch darüber). Beide Schulprojekte liegen in Stark-Watzingers Ressortverantwortung. News4teachers / mit Material der dpa

Lindner hat recht – Kinderarmut betrifft insbesondere Migrantenfamilien. Ja und?

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