GENF. In der kommenden Woche steht im Palais des Nations in Genf, dem zweiten Hauptsitz der Vereinten Nationen neben New York, Deutschland im Fokus: Eine Delegation der Bundesregierung muss im Rahmen einer offiziellen Staatenprüfung darlegen, wie die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung umsetzt wird, zu der sich Deutschland verpflichtet hat. Eltern behinderter Kinder aus mehreren Bundesländern wollen mit einem Protestcamp vor dem UNO-Gebäude demonstrieren, weil insbesondere die schulische Inklusion in Deutschland nicht vorankommt.
Am 29. und 30. August 2023 findet in Genf die Staatenprüfung Deutschlands zur Behindertenrechtskonvention statt. Eltern aus inzwischen acht Bundesländern haben sich verabredet, um zum Teil mit ihren Kindern direkt vor dem UNO-Gebäude öffentlich zu machen, wie wenig Deutschland aus ihrer Sicht dafür tut, Kinder und Jugendliche mit Behinderung in die allgemeinen Schulen zu integrieren. Um auf die Missstände hinzuweisen, ist aus den Reihen der Elternbewegung auch eine Stellungnahme beim UN-Fachausschuss eingebracht worden, in der die Versäumnisse der Politik und die Situation für Kinder mit Behinderung dargestellt werden (so vom eigens damit beauftragten Deutschen Institut für Menschenrechte, News4teachers berichtete).
„Statt Sonderschulen abzubauen, werden sogar weitere zusätzliche Sonderschulen gebaut“, heißt es in dem Papier zur aktuellen Situation.
Und weiter: „Kinder mit Behinderungen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention haben in Deutschland keine Schwierigkeiten, eine Sonderschule zu finden. Der Schultransport dorthin ist kostenlos, die meisten Sonderschulen sind gut ausgestattete Ganztagsschulen mit medizinisch-therapeutischer Versorgung. Im Gegensatz dazu müssen die Familien in den meisten Bundesländern erhebliche eigene Anstrengungen unternehmen, um inklusive Bildung zu verwirklichen. Der Anteil inklusiver Regelschulen ist je nach Region sehr unterschiedlich, und die meisten nehmen nicht Schüler mit allen Arten von Behinderungen auf. In der Folge ist eine inklusive Beschulung am Wohnort oft nicht gewährleistet.“
Darüber hinaus seien Vorkehrungen und Ausstattung in inklusiven Schulen schlechter als in Sonderschulen, und es gebe keine Verpflichtung für Lehrkräfte, sich für den inklusiven Unterricht fortzubilden. „Folglich sind die meisten Lehrer inklusiver Regelschulen nicht geschult für den inklusiven Unterricht“, monieren die Eltern.
„Zusätzlich stehen die Familien vor der Herausforderung, sich um notwendige Schulassistenz und den Schultransport selbst zu kümmern. Dafür müssen sie jährlich Anträge bei den örtlichen Behörden stellen, und es gibt keine Garantie, dass sie die erforderliche Unterstützung auch erhalten. Insbesondere der Schultransport wird meist den Familien überlassen und auf Dauer zur erheblichen Belastung.“
“Es gibt für Eltern keine Ermutigung, den inklusiven Weg zu gehen, und nur wenig Information über das Recht und die Möglichkeiten der inklusiven Bildung”
Weiter schreiben die Elternvertreter: „Weil es keine Maßnahmen der Bewusstseinsbildung für inklusive Bildung gibt, finden sich Familien von Kindern mit Behinderung umgeben von Lehrern, Verwaltungsangestellten, Ärzten, Therapeuten, Gesundheitspersonal und Kindergartenpersonal, die sich nach wie vor dafür einsetzen, dass Kinder mit Behinderung Sonderschulen besuchen sollten. Es gibt für sie keine Ermutigung, den inklusiven Weg zu gehen, und nur wenig Information über das Recht und die Möglichkeiten der inklusiven Bildung. Ihnen wird im Gegenteil oft der Eindruck vermittelt, dass sie Außergewöhnliches verlangen.“
In der Beratungsstelle des Vereins mittendrin suchten jedes Jahr zwischen 200 und 300 Familien Information und Unterstützung in Sachen inklusiver Bildung. Daraus ließen sich Schlüsse ziehen über typische Hindernisse und Mechanismen, die Familien in Deutschland daran hindern, das Recht ihrer Kinder auf inklusive Bildung wahrzunehmen oder die sie dazu bringen, die inklusive Bildung nach einiger Zeit wieder aufzugeben.
„Wir haben verschiedene hochwirksame Abwehrstrategien identifiziert, die inklusive Bildung verhindern, obwohl ein Rechtsanspruch vorliegt“, so schreiben die Autorinnen und Autoren. Typische Szenarien seien:
- Viele Familien, die unsere Beratungsstelle zum Thema inklusive Bildung aufsuchen, sind zutiefst verunsichert. Sie kennen keine positiven Beispiele für inklusiven Unterricht für Schüler mit körperlichen, geistigen oder psychosozialen Behinderungen. Sie sind beeinflusst durch Ärzte und Therapeuten, die ihnen sagen, dass inklusive Beschulung nur für “leichte Fälle” geeignet sei und die Regelschulen nicht die Kompetenz hätten, ihr Kind angemessen zu fördern. Medienberichte, in denen zumeist die besonderen Herausforderungen und Unzulänglichkeiten der inklusiven Bildung hervorgehoben werden, tragen weiter zu ihrer Unsicherheit bei. Den Familien wird gesagt, dass Kinder mit Behinderung in Regelschulen häufig von Gleichaltrigen gemobbt würden. Sie werden gefragt, ob sie das Wohlergehen ihres Kindes durch den Besuch einer Regelschule riskieren wollen. Außerdem hören sie immer wieder, wie Politiker die angeblich hohe Qualität des deutschen Sonderschulwesens betonen. In diesem gesellschaftlichen Klima erfordert es große Entschlossenheit, den inklusiven Weg weiter zu verfolgen.
- Den Familien begegnen sanfte Abwehrstrategien, zum Beispiel: Eine Familie versucht ihr Kind mit einer wesentlichen körperlichen oder geistigen Behinderung in einer Regelschule anzumelden. Die Lehrer erklären sehr freundlich, dass sie das Kind natürlich aufnehmen müssten, aber leider nicht über die notwendigen Ressourcen und das nötige Fachwissen verfügen, um es gut zu fördern. So wird subtil angedeutet, dass eine Sonderschule die bessere Lösung sein könnte.
- Den Familien wird keine wohnortnahe Schule angeboten, z. B.: Beim Übergang in die Sekundarschule empfiehlt die Schulverwaltung eine 30 km entfernte Schule, weil die örtliche Sekundarschule keine Schüler mit geistiger Behinderung aufnimmt. Einen Schultransport gibt es nicht.
- Die Schulen übernehmen keine Verantwortung für Schüler mit Behinderungen, z. B.: Ein behindertes Kind besucht mit Assistenz eine Regelschule. Sobald die Assistenz ausfällt, werden die Eltern von der Schule aufgefordert, das Kind zu Hause zu behalten. Dieses Vorgehen ist zwar rechtswidrig, aber sehr üblich, und es fehlt an wirksamen Maßnahmen der Schulverwaltung, das zu unterbinden.
- Ein weiteres Beispiel für fehlende Verantwortung: Eine Schule ist kaum inklusiv entwickelt und geht nicht gut auf besondere Lernbedürfnisse ein. Infolgedessen gerät ein Schüler mit Behinderung in Konflikte und der Lehrer ruft die Eltern an mit der Forderung, das Kind sofort von der Schule abzuholen. Wir kennen Fälle, in denen Lehrer dies regelmäßig mehrmals pro Woche getan haben.
- Schulen entziehen sich der notwendigen inklusiven Schulentwicklung, z. B.: In einer inklusiven Schule fehlt es an Teamwork und inklusiver Unterrichtsentwicklung. Der Sonderpädagoge nimmt nicht aktiv am Unterricht teil, sondern erscheint nur für ein paar Stunden pro Woche, um Schüler mit Behinderungen für Förderstunden aus der Klasse herauszunehmen. Wenn Eltern daraufhin ihre Unzufriedenheit mit der Qualität des Unterrichts zum Ausdruck bringen, wird ihnen geraten, den Wechsel auf eine Sonderschule in Erwägung zu ziehen.
- Unter dem Vorwand des Kindeswohls wird eine Sonderbeschulung gefordert, z. B.: Die Lehrer fühlen sich im Unterricht von einem autistischen Schüler überfordert und raten den Eltern immer wieder zu einem Wechsel auf die Sonderschule. Als die Eltern diesen Vorschlag hartnäckig ablehnen, eskalieren die Konflikte und die Lehrer melden die Familie beim Jugendamt, weil sie durch die Verweigerung der Sonderschule das Wohl des Kindes gefährdet sehen. Solche Fälle gibt es in mehreren Bundesländern. Ein aktueller Fall ist der von “Marie”, der derzeit dem UN-Fachausschuss zur Prüfung vorliegt. Unsere Beratungsstelle hat zu drei weiteren Familien Kontakt, die über Konflikte um die inklusive Bildung von Jugendämtern angegangen wurden und das Sorgerecht für ihr Kind verloren haben.“
Zusammenfassend lasse sich feststellen, dass ein strukturierter Prozess zum Aufbau eines inklusiven Schulsystems im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention in den meisten Bundesländern noch nicht begonnen habe. „Stattdessen erleben wir zur Zeit eine massive Rückwärtsentwicklung. Diese zeigt sich in mehreren Bundesländern, in denen die Kommunen bereits den Bau neuer zusätzlicher Sonderschulen vorbereiten.“
Der Anteil der Schüler mit angeblichen geistigen Behinderungen ist bei Kindern ohne deutschen Pass doppelt so hoch ist wie in der Gesamtschülerschaft
In der Stadt Köln beispielsweise vermerke das kommunale Inklusionsmonitoring eine stetig wachsende Zahl von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, insbesondere von Kindern mit geistigen Behinderungen: Ihre Zahl ist innerhalb von zehn Jahren um rund 60 Prozent gestiegen. Dadurch steigen die Schülerzahlen in den Sonderschulen. Das Monitoring decke auch auf, dass der Anteil der Schüler mit angeblichen geistigen Behinderungen bei Kindern ohne deutschen Pass – Geflüchteten und Migranten – doppelt so hoch sei wie in der Gesamtschülerschaft. „Diese Entwicklung sollte Fragen nach der Qualität der Förderdiagnostik und nach der Qualität der inklusiven Bildung aufwerfen. Stattdessen schlägt die Stadtverwaltung ohne weitere Erörterung den Bau von zwei zusätzlichen Sonderschulen für Kinder mit geistiger Behinderung vor, wodurch sich die Gesamtzahl dieser Schulen in der Stadt von vier auf sechs erhöhen würde.“ News4teachers
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