Website-Icon News4teachers

“Inklusion stockt”: Nach UN-Prüfung erwarten Elterninitiativen Rüge für Deutschland

GENF. Nach Abschluss der Staatenprüfung Deutschlands durch die Vereinten Nationen in Genf hat das Deutsche Institut für Menschenrechte Bund, Länder und Kommunen aufgefordert, sich stärker für die Inklusion und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen einzusetzen. „Die Prüfung hat klar gemacht, dass Deutschland nicht genug tut, um seine menschenrechtlichen Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention zu erfüllen“, sagt Britta Schlegel, Leiterin der Monitoring-Stelle des Instituts. Elternvertreter erwarten eine Rüge für Deutschland – die GEW fordert Konsequenzen.

Die Vereinten Nationen begutachten den Fortschritt bei der Inklusion, zu der sich Deutschland international verpflichtet hat. Foto: Shutterstock

Im Zentrum der Kritik des UN-Ausschusses steht nach Angaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte (das offiziell dem Ausschuss berichtet) das in Deutschland immer noch hochentwickelte System von Sonderstrukturen – in der schulischen Bildung, bei der Beschäftigung in Werkstätten oder bei der Unterbringung in großen stationären Wohneinrichtungen. „Nötig sind zielgerichtete politische Strategien zur Deinstitutionalisierung, damit Menschen mit Behinderung selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können“, so Schlegel.

Voraussichtlich Ende September veröffentlicht der UN-Ausschuss seine finale Bewertung. Darin benennt er die Bereiche, in denen Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention besser umsetzen muss. Diese Vorgaben seien eine wichtige Orientierungshilfe für alle staatlichen und nichtstaatlichen Akteure in Deutschland, die Verantwortung für die Umsetzung der UN-Konvention tragen – so heißt es beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Und: „Wir erwarten, dass die Bundesregierung die Empfehlungen aus Genf zügig allen zuständigen Behörden übermittelt und wirksame Maßnahmen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ergreift.“

Anzeige

„Die schulische Inklusion ist ins Stocken geraten, in einigen Bundesländern sogar rückläufig. Das ist beschämend“

Die Gewerkschaft Erziehung (GEW) mahnt unterdessen Bund und Länder, zur Umsetzung der Inklusion im Bildungsbereich mehr Verantwortung zu übernehmen und mehr Ressourcen bereit zu stellen. Die GEW-Vorsitzende Maike Finnern schlägt einen „Pakt für Inklusion“ vor. „Die schulische Inklusion ist ins Stocken geraten, in einigen Bundesländern sogar rückläufig. Das ist beschämend, denn Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) bereits vor 14 Jahren ratifiziert“, sagt Finnern mit Blick auf die UN-Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der BRK.

Danach werde weiterhin mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf an gesonderten Schulen unterrichtet, die in manchen Bundesländern wieder vermehrt eingerichtet würden. „Das ist nicht nur kostspielig, sondern auch diskriminierend, da die meisten dieser jungen Menschen keine anerkannten Abschlüsse erhalten und kaum Perspektiven auf dem weiteren Bildungs- und Lebensweg, geschweige denn auf dem Arbeitsmarkt haben“, betonte Finnern.

„Die Inklusion ist nicht gescheitert: Sie wird politisch an die Wand gefahren. Vor allem weil die Regelschulen nicht die nötige Ausstattung und das nötige Personal erhalten, um alle Kinder inklusiv zu unterrichten“, unterstrich die GEW-Vorsitzende. Zwar seien bei der schulischen Inklusion in erster Linie die Bundesländer am Zug, aber auch die Bundesregierung dürfe sich nicht ihrer Mitverantwortung entziehen. „Statt immer nur auf die Verantwortung der Länder zu verweisen und diesen Flickenteppich zu dulden, schlagen wir gemeinsame Zielsetzungen, eine bundesweite Gesamtstrategie und eine Bund-Länder-Kooperation vor, um Maßnahmen und Ressourcen zu steuern“, sagt Finnern.

Sie kritisiert, dass Deutschland dem UN-Ausschuss in Genf nicht einmal die nötigen Daten zur Bewertung der Umsetzung der Inklusion vorgelegt habe. Finnerns Appell: „Deutschland stünde eine Enquete-Kommission des Bundestags, die Ziele, Wege und Daten für eine menschenrechtskonforme Umsetzung der UN-BRK erarbeitet, gut zu Gesicht. Es muss endlich Transparenz hergestellt und dem Provinzialismus ein Ende bereitet werden. Wir brauchen einen bundesweiten, gesamtgesellschaftlichen Pakt für Inklusion!“

„Wir wollen dafür sorgen, dass die dringenden Empfehlungen des UN-Fachausschusses in Bund und Ländern nicht ignoriert werden“

Den vermissen auch die Betroffenenverbände und -initiativen, die in Genf gegen die deutsche Inklusionspolitik insbesondere in der Bildung protestiert hatten. Die Aussagen der Delegation von Bund und Ländern zur inklusiven Bildung hätten die Eltern mit großer Enttäuschung aufgenommen, so berichtet der Verein mittendrein. Die Statements „waren geprägt von Ausflüchten, versuchten Umdeutungen der Konvention und bewusstem Nicht-Verstehen der Anforderungen, die die Konvention für ein inklusives Bildungssystem formuliert.“ Die Behauptung des Vertreters der Kultusministerkonferenz, dass die deutschen Förderschulen Teil eines inklusiven Schulsystems seien,  hätten bei den Mitgliedern des Fachausschusses für Verwunderung gesorgt.

Mehrere Mitglieder des UN-Fachausschusses besuchten der Pressemitteilung zufolge das Eltern-Protestcamp „und zeigten sich außerordentlich erstaunt über das fehlende Verständnis der deutschen Vertreter für inklusive Bildung“. Die Aktivistinnen und Aktivisten hoffen nun, dass der Fachausschuss in seinen abschließenden Empfehlungen zur Staatenprüfung (die im Laufe des September erwartet werden) mit deutlichen Worten zum Ausdruck bringt, dass die Nicht-Umsetzung der Konvention in den Schulen nach 14 Jahren Rechtsgültigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention in keiner Weise mehr akzeptabel ist.

Das Protestcamp sei im Laufe der zwei Tage von Politikern aus Bundestag und EU-Parlament sowie von mehreren Vertretern der Zivilgesellschaft besucht worden, „jedoch nicht von Mitgliedern der offiziellen deutschen Regierungsdelegation“. Die Eltern verlassen Genf in der Überzeugung, dass das Protestcamp die Dringlichkeit gezeigt hat, endlich die inklusive Bildung in Deutschland voranzutreiben. „Wir wollen dafür sorgen, dass die dringenden Empfehlungen des UN-Fachausschusses in Bund und Ländern nicht ignoriert werden“, sagt mittendrin-Vorsitzende Eva-Maria Thoms. News4teachers / mit Material der dpa

„Schämt Euch!“ – Deutschland steht vor den Vereinten Nationen am Pranger, weil es die Inklusion an Schulen praktisch verweigert

Die mobile Version verlassen