GENF. In der kommenden Woche steht im Palais des Nations in Genf, dem zweiten Hauptsitz der Vereinten Nationen neben New York, Deutschland im Fokus. Eine Delegation der Bundesregierung muss im Rahmen einer offiziellen Staatenprüfung darlegen, wie die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung umsetzt wird, zu der sich Deutschland verpflichtet hat. Das Verfahren wird absehbar peinlich. Denn die Bilanz des unabhängigen Deutschen Menschenrechtsinstituts, das an die Vereinten Nationen berichtet, fällt verheerend aus – insbesondere im Bereich der schulischen Inklusion.
„Ein echter Paradigmenwechsel in Politik und Gesellschaft hin zu Inklusion und Selbstbestimmung ist auch 14 Jahre nach Inkrafttreten nicht festzustellen“, so heißt es in dem offiziellen Bericht mit Blick auf die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die der Bundestag 2009 ratifiziert und damit zum Gesetz auch in Deutschland gemacht hat. „Im Gegenteil: In Deutschland besteht weiterhin ein stark ausgebautes System von Sonderstrukturen – sowohl in der schulischen Bildung und bei der Beschäftigung in Werkstätten als auch in Form von großen stationären Wohneinrichtungen. Zwar wird viel über Inklusion diskutiert, konsequent in die Tat umgesetzt wird sie allerdings nicht.“
Mit Sorge beobachte die Monitoring-Stelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte (das vom Bundestag damit beauftragt wurde, die Umsetzung der UN-BRK zu überwachen) „eine fehlgeleitete Inklusionsrhetorik, wonach unterschiedliche Akteure aus Politik und Gesellschaft Sonderstrukturen als Teil eines inklusiven Systems bezeichnen“.
Doppelstrukturen würden flächendeckend und im Kern unverändert beibehalten – vor allem im Bereich der Schulen. „Die entsprechenden Empfehlungen des Ausschusses von 2015, Sondersysteme schrittweise abzubauen, wurden allenfalls ansatzweise aufgegriffen und zum Teil sogar negiert. Dies zeigt, dass die UN-BRK und ihre Vorgaben nicht durchgehend menschenrechtskonform interpretiert werden. Im Ergebnis bauen nur wenige Bundesländer systematisch ein inklusives Schulsystem für alle Kinder mit Behinderungen auf.“
„Förderschulen werden als vermeintlicher Teil eines inklusiven Systems behandelt und mit dem Elternwahlrecht auf diese Schulform gerechtfertigt“
Die Situation beschreibt das Institut für Menschenrechte so: „Deutschland ist geprägt von einem ausdifferenzierten System von Förderschulen für Kinder mit Behinderungen. Eine Transformation hin zu einem inklusiven Schulsystem findet nicht statt. Die Datenlage zeigt, dass aktuell im Bundesdurchschnitt noch immer mehr als die Hälfte der Schüler*innen mit sonderpädagogischer Förderung an einer Förderschule unterrichtet werden. Der Anteil von Kindern in Förderschulen steigt in einigen Bundesländern sogar. Förderschulen werden darüber hinaus als vermeintlicher Teil eines inklusiven Systems behandelt und mit dem Elternwahlrecht auf diese Schulform gerechtfertigt.“
Deutschland habe darauf zuletzt in einer bisher noch nicht veröffentlichten Stellungnahme erneut verwiesen und die Auffassung wiederholt, dass die UN-BRK nicht zu einer Abschaffung von Förderschulen verpflichte.
„Damit zusammenhängend gibt es außer in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg keinen Rechtsanspruch auf eine inklusive Beschulung und angemessene Vorkehrungen. Stattdessen festgeschrieben sind Ressourcenvorbehalte, das erwähnte Elternwahlrecht oder die Einrichtung von Schwerpunktschulen inklusiver Beschulung, die nur an einzelnen Standorten angeboten werden und eine Sonderstruktur im Regelschulsystem darstellen. Mangels Daten ist auch nicht klar, in welchem Umfang Schulen in Deutschland barrierefrei sind“, so heißt es.
Und weiter: „Die überwiegende Mehrheit (72,7 Prozent) der Förderschüler*innen verlässt die Schule ohne anerkannten Abschluss. Dies ist der Beginn einer Exklusionskette: Die Betroffenen wechseln in der Regel in gesonderte und theoriereduzierte Formen der Berufsausbildung mit verminderten Aussichten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Viele von ihnen arbeiten später in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen.“ Nach wie vor würden in Deutschland Sonderpädagoginnen und -pädagogen für Förderschulen ausgebildet, statt gezielt Lehrkräfte für Inklusion an Regelschulen auszubilden. Auch allgemeinbildende Lehrkräfte würden noch nicht verpflichtend inklusionspädagogisch aus- und fortgebildet. „Aktuelle Studien belegen zudem eine ablehnende Haltung vieler Regel- und Förderschullehrkräfte, Schüler*innen mit intellektuellen oder komplexen Behinderungen zu unterrichten.“
Angeregt wird, die Vereinten Nationen sollten „dem Vertragsstaat“ – also Deutschland – „empfehlen, seine Anstrengungen in Bezug auf inklusive schulische Bildung zu verstärken und die schulische Segregation mithilfe einer Gesamtstrategie und unter Ausbau der Kooperation zwischen Bund und Ländern zu überwinden und den vorbehaltlosen Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung in allen Bundesländern zu verankern sowie konkrete, zeitlich terminierte und mit finanziellen Mitteln unterlegte Maßnahmen unter anderem zu folgenden Zielen vorzunehmen“.
„In Deutschland herrscht in der Politik und auch in weiten Teilen der Gesellschaft ein verfehltes Inklusionsverständnis“
Darüber hinaus sollten personelle und finanzielle Ressourcen von der Förderschule zu inklusiven Schulen umgeschichtet, verpflichtende Aus- und Fortbildungsangeboten für Lehr- und Fachpersonal zu inklusiver Beschulung sichergestellt und Informationskampagnen zum menschenrechtlichen Verständnis und den Vorteilen inklusiver Bildung entwickelt werden. Und: Daten zur Barrierefreiheit von Schulen sollten erhoben werden, um Barrieren gezielt abzubauen.
Fazit der Monitoring-Stelle: „In Deutschland herrscht in der Politik und auch in weiten Teilen der Gesellschaft ein verfehltes Inklusionsverständnis. So wird die Mehrheit der Kinder mit Behinderungen weiterhin nicht inklusiv beschult und wächst ohne schulischen Kontakt zu nichtbehinderten Kindern auf. Das Ziel einer inklusiven Gesellschaft ist so nicht zu erfüllen. Die Landesregierungen müssen ihre menschenrechtliche Umsetzungspflicht gezielter und engagierter wahrnehmen. Der Bund kann sich seiner Gesamtverantwortung nicht durch den Verweis auf die Länderzuständigkeit im Bildungsbereich entziehen. Bund und Länder sind gemeinsam in der Pflicht, das Bildungssystem inklusiv umzugestalten.“ News4teachers / mit Material der dpa
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