BERLIN. Warum wird die individuelle Arbeitszeit von Lehrkräften noch immer nicht erhoben, obwohl mittlerweile mehrere Gerichtsurteile die Arbeitgeber dazu verpflichten? Die Kultusminister verweisen ans Bundesarbeitsministerium, das gerade damit beschäftigt ist, das Arbeitszeitgesetz entsprechend anzupassen. Tatsächlich war versucht worden, eine Ausnahmeregelung für Lehrkräfte zu erwirken – erfolglos. Der „Bildungsrat von unten“, eine Lehrkräfte-Initiative, macht jetzt Druck auf die Landesregierungen, endlich die Arbeitszeit der Beschäftigten im Schuldienst zu erfassen.
Der „Bildungsrat von unten“ ist eine Initiative insbesondere von Lehrkräften, die sich als „etwas andere Kultusministerkonferenz“ versteht – und die als Reaktion auf das umstrittene Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK zum Lehrermangel gegründet wurde, in dem unter anderem Mehrarbeit, größere Klassen und Einschränkung der Teilzeit vorgeschlagen wurden (News4teachers berichtete).
Gründungsmitglieder des Bildungsrats: der „Bildungsinfluencer“ und Lehrer Bob Blume, die Lehrerin Susanne Posselt, der Lehrer Philipp Dehne („Schule muss anders“) sowie Ex-Staatsekretär Mark Rackles, der unlängst im Auftrag der Telekom-Stiftung ein Gutachten zur Lehrerarbeitszeit vorgelegt hat, News4teachers berichtete). Mittlerweile gehören der Initiative mehr als 1.000 Menschen an.
Und die machen Dampf – aktuell in Sachen Arbeitszeiterfassung. Das Plenum des „Bildungsrats von unten“ hat nun eine Stellungnahme beschlossen, die die KMK beziehungsweise die Länder als Dienstherrn und Arbeitgeber in die Pflicht nehmen soll. Kritisiert wird der Versuch der 16 Kultusministerinnen und Kultusminister, sich der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung zu entziehen und die Lehrkräfte davon auszunehmen (News4teachers berichtete auch darüber). Gefordert wird stattdessen die Aufnahme von Verhandlungen über die notwendige Arbeitszeiterfassung und den Arbeitsschutz an Schulen durch die Länder mit den jeweiligen Beschäftigtenvertretungen und Gewerkschaften.
Hintergrund: Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21) und des EuGH vom 14. Mai 2019 (C 55/18) haben verbindlich festgestellt, dass alle Arbeitgeber für alle ihre Beschäftigten aus Gründen des Arbeitsschutzes die Arbeitszeit erfassen müssen. Diese Verpflichtung ergibt sich u.a. aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG).
„Die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes zu Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten sind heute schon für Arbeitnehmer in Schulen (…) einzuhalten“
Die KMK hat in einem Schreiben vom 11. Juli 2023 beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) darum gebeten, dass bei der anstehenden Novellierung des Arbeitszeitgesetzes der Schulbereich von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen wird. Begründet wird dies mit der „besonderen Situation der Lehrkräfte“, deren Arbeitszeit „nur hinsichtlich der zu erteilenden Unterrichtsstunden messbar“ sei, „nicht im Einzelnen im Vorfeld vollständig prognostiziert“ werden und „auch nicht arbeitgeberseitig überprüft“ werden könne. Zudem sei die aufzuwendende Arbeitszeit je nach Schülerschaft, Fächerkombinationen und „individuellen Fähigkeiten“ unterschiedlich.
Das BMAS hat der KMK mit Antwortschreiben vom 3. August 2023 eine Abfuhr erteilt – und eine Ausnahmeregelung für Lehrkräfte abgelehnt. Zugleich habe das BMAS wichtige offizielle Klarstellungen für die Lehrkräftearbeitszeit vorgenommen, so berichtet der „Bildungsrat von unten“. Im Wortlaut:
- Das Bundesarbeitsgericht hat mit seinem Urteil verbindlich entschieden, dass in Deutschland die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmer*innen aufzuzeichnen ist: „Der Arbeitgeber ist (…) verpflichtet, ein System einzuführen und zu nutzen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann“.
- „Nach der BAG-Entscheidung ist das Urteil des EuGH (…) aufgrund des Arbeitsschutzes bereits heute von den Arbeitgebern in Deutschland zu beachten“. Die Novellierung des Arbeitszeitgesetzes erfolge nur zur Schaffung von Rechtsklarheit für Arbeitgeber.
- „Der europäische Arbeitnehmerbegriff (schließt) auch Beamtinnen und Beamte ein“. „Auch das vom BAG in Bezug genommene Arbeitsschutzgesetz findet auf Beamtinnen und Beamte Anwendung“.
- „Die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes zu Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten sind heute schon für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Schulen (…) einzuhalten und werden durch die Arbeitszeiterfassung nicht verändert“.
- Die beantragte Ausnahmegenehmigung gem. Art. 17 Abs. 1 der europäischen Arbeitszeitrichtlinie findet im Fall der Lehrkräftearbeitszeit keine Anwendung.
- „Der Umstand, dass der konkrete Umfang der Arbeitszeit nicht in jedem Fall im Voraus feststeht, steht einer nachträglichen Dokumentation am Ende des Arbeitstages nicht entgegen“.
Der „Bildungsrat von unten!“ stellt dazu nun fest: „Die KMK und die Länder sind in der Pflicht zur Gewährleistung des Arbeitsschutzes in Schule. Die von der KMK beantragte Ausnahmeregelung widerspricht der Verpflichtung des öffentlichen Dienstherrn zur Einhaltung der länderübergreifend geltenden gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen.“ Die Kultus- und Innenministerien in den Ländern müssten ihrer Fürsorgepflicht als Arbeitgeber nachkommen und aus Gründen des Arbeitsschutzes geeignete Systeme der Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte einführen und nutzen.
Weiter heißt es in dem Beschluss: „Es besteht keine Notwendigkeit, erst die eventuelle Novellierung des Arbeitszeitgesetzes auf Bundesebene abzuwarten. Die Länder sind unmitelbar und alleine für das Dienstrecht ihrer Lehrkräftee zuständig, durch tarifvertraglichen Verweis gelten Arbeitszeitbestmmungen für Beamte analog für tarifeschäftigte Lehrkräfte (§ 44 TV-L).“ Die Innen- und Kultusverwaltungen seien „hier und jetzt“ aufgefordert, mit den Beschäftigtenvertretungen und Gewerkschaften Verhandlungen über die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung und den Arbeitsschutz im Schulbereich aufzunehmen.
„Alle Beschäftigten an Schule haben ein Recht auf die Einhaltung von Grenzen der Höchstarbeitszeit und eine Gewährleitung der Mindestruhezeiten“
„Die Erfassung von Arbeitszeiten steht weder der bisherigen Flexibilität der Lehrkräftearbeitszeit entgegen noch bedingt sie eine Präsenzpflicht in Schule. Grundsätzlich sind Arbeitszeitermitlungen auf Basis von Selbstaufzeichnungen der Lehrkräfte ein geeignetes Instrument zum Nachweis der Arbeitszeit (in diesem Sinn OVG Lüneburg Az. 5 KN 164/14).“
Und: „Die Arbeitszeiterhebungen der Vergangenheit dokumentieren im Ergebnis ein substanzielles Maß an Überstunden in Bezug auf die tariflichen Soll-Arbeitszeiten von Lehrkräften in Deutschland. Alle Beschäftigten an Schule haben ein Recht auf die Einhaltung von Grenzen der Höchstarbeitszeit und eine Gewährleitung der Mindestruhezeiten.“ News4teachers
Hier geht es zum “Bildungsrat von unten”.