BERLIN. Deutschland steht vor der größten Protestwelle gegen Missstände im Bildungssystem, die das Land je erlebt hat. Die Initiative „Bildungswende jetzt!” hat den 23. September zum Aktionstag erklärt – und veranstaltet bundesweit in rund 30 Städten Demonstrationen, um den Bundeskanzler und die Landesregierungen unter Druck zu setzen, mehr Geld für Kitas und Schulen aufzuwenden. Mehr als 170 Organisationen haben sich der Initiative bereits angeschlossen.
„Deutschlands Bildungssystem steckt in einer tiefen Krise: Bis 2035 werden knapp 160.000 Lehrkräfte bundesweit fehlen. Im Kitabereich fehlen jetzt schon 384.000 Kita-Plätze und über 300.000 zusätzliche Erzieherinnen und Erzieher. Ein Viertel der Kinder kann laut der neuesten IGLU-Studie nach der 4. Grundschulklasse nicht richtig lesen. Bereits jedes Jahr verlassen bundesweit rund 50.000 junge Menschen die Schule ohne einen Abschluss, und der Bildungserfolg hängt in Deutschland weiterhin enorm stark vom sozioökonomischen Status des Elternhauses ab“, so heißt es in einem aktuellen Papier des Bündnisses „Bildungswende jetzt!“
Über 170 Bildungsorganisationen, Eltern- und Schülervertretungen sowie Gewerkschaften haben sich in dem Bündnis zusammengeschlossen. Mehr als 70.000 Menschen unterzeichneten bislang eine Online-Petition, die sich mit dem gleichnamigen Appell an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die Bundesregierung und die Abgeordneten des Bundestags sowie die Ministerpräsidenten der Länder und die Kultusministerkonferenz richtet (hier geht es zur Petition). Für den 23. September wird zu einem bundesweiten Aktionstag aufgerufen. In zahlreichen Städten werden Demonstrationen stattfinden, um der Forderung nach höheren Bildungsinvestitionen Nachdruck zu verleihen (siehe Liste unten).
„Kinder und Jugendliche müssen Fähigkeiten und Wissen erwerben, um den Herausforderungen des 21 Jahrhunderts wie der Klimakrise sowie sozialen und globalen Ungerechtigkeiten zu begegnen“
Am dieser Woche wurde im Bundestag der Etatentwurf des Bundesbildungsministeriums diskutiert, der mit Kürzungsplänen im Bildungsbereich von über einer Milliarde Euro den Aktivistinnen und Aktivisten zufolge „einen unfassbaren Widerspruch zur sich verschärfenden Bildungskrise darstellt. Die geplanten Kürzungen sind unverständlich und unverantwortlich, stattdessen wären massive Investitionen in die Bildung notwendig. Denn in dem akuten und sich seit Jahren verschärfenden Mangelsystem werden weder Chancengleichheit noch Inklusion verwirklicht, noch werden Kinder und Jugendliche angemessen auf die Zukunft vorbereitet“.
Während der jüngsten Anhörung in Genf im Rahmen der Staatenprüfung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sei Deutschland von Vertretern der Vereinten Nationen wegen der unzureichenden Inklusion im Bildungssystem „aufs Schärfste“ kritisiert worden. Obwohl Deutschland bereits 2009 die UN-BRK ratifiziert hat, können behinderte Kinder und Jugendliche danach viel zu selten an Regelschulen lernen (News4teachers berichtete).
Zudem habe Deutschland bereits 2017 den Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung verabschiedet – aber auch dabei hake es bei der Umsetzung. „Dabei müssen Kinder und Jugendliche Fähigkeiten und Wissen erwerben, um den Herausforderungen des 21 Jahrhunderts wie der Klimakrise sowie sozialen und globalen Ungerechtigkeiten zu begegnen“, heißt es. Greenpeace und das Bündnis ZukunftsBildung hätten Ende August eine aktualisierte Studie herausgebracht, die die notwendigen Investitionen für die Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) bis 2035 auf gut 16 Milliarden Euro berechnet.
„Dies alles zeigt: Um aus der Bildungskrise hin zu einer Bildungswende zu kommen, braucht es neben mehr Personal, einem Umdenken und der Partizipation der Bildungsbetroffenen deutlich mehr finanzielle Mittel. Ansonsten bleiben Bildungsgerechtigkeit, Bildungsqualität und notwendige sprachliche Basiskompetenzen, aber auch essenzielle Themen wie Bildung für nachhaltige Entwicklung und dringend benötigte Demokratiebildung auf der Strecke, mit all den individuellen und gesellschaftlichen Folgen.“
Gefordert wird ein „Sondervermögen Bildung“ in Höhe von mindestens 100 Milliarden Euro als Anschubfinanzierung und eine dauerhaft bessere und bedarfsgerechte Finanzierung des deutschen Bildungssystems. „Beides kann und muss jetzt im Haushalt festgeschrieben werden“, meinen die Initiatorinnen und Initiatoren. Schon der Sanierungsstau an den Schulgebäuden wird auf mehr als 45 Milliarden Euro geschätzt. Für Kitas kämen noch mal über 10 Milliarden Euro an dringend notwendigen Bauinvestitionen hinzu.
„Aufgrund der jahrelangen Unterfinanzierung des deutschen Bildungssystems – sowohl im internationalen Vergleich als auch gemessen an den beim Dresdener Bildungsgipfel 2008 getroffenen Vereinbarungen – braucht es das Sondervermögen als Anschubfinanzierung. Allein für den dringend benötigten Ausbau des Ganztags zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung ab 2026 werden zusätzliche Investitionskosten in Milliardenhöhe nötig. Dabei ist der Ausbau des Ganztags notwendig, um alle Kinder bestmöglich zu fördern. Insbesondere für Kinder aus armen Familien ist ein gutes Angebot hier von enormer Bedeutung. Außerdem stellt der Ganztagsausbau eine wichtige Grundlage dafür dar, um Familie und Beruf miteinander vereinbaren zu können und stärkt die Gleichstellung von Frauen.
Die Mittel aus dem Sondervermögen sollen auch dazu dienen, eine Ausbildungsoffensive für Lehrer*innen und Erzieher*innen auf den Weg zu bringen. Bereits jetzt fließen Bundesmittel beispielsweise über den Zukunftsvertrag ‚Studium und Lehrer stärken‘ und die ‚Qualitätsoffensive Lehrkräftebildung‘ in die Ausbildung von Lehrkräften. Allerdings sind diese zu gering und verhindern weder, dass mancherorts Studienplätze fehlen und Bewerber*innen abgelehnt werden, noch die hohen Abbruchquoten im Lehramtsstudium. Im Bereich der Erzieher*innen müssen der Bund und die Länder die Kommunen von ihren Altschulden entlasten, damit diese die Qualifikationskapazitäten ausbauen und die Praxisintegrierte Ausbildung (P.I.A) flächendeckend anbieten können. So würde die Ausbildung auch vergütet und auch die Attraktivität, in den Erzieher*innenberuf einzusteigen, deutlich verbessert werden, was bei dem aktuell dramatischen Fachkräftemangel bitter notwendig ist.“
“Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland schlecht ab und investiert gemessen am Bruttoinlandsprodukt deutlich weniger als der Durchschnitt der OECD-Staaten in Bildung”
Eine nachhaltige Bildungswende setze allerdings auch eine dauerhafte und ausreichende Finanzierung voraus, so heißt es. „Deutschland versäumt es seit Jahren, diese grundlegende Voraussetzung zu schaffen. Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland schlecht ab und investiert gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) deutlich weniger als der Durchschnitt der OECD-Staaten in Bildung. Wollte Deutschland als selbst ernannte ‚Bildungsrepublik‘ mit dem Spitzenreiter Norwegen bei den anteiligen Bildungsausgaben (im Verhältnis zum BIP) gleichziehen, wäre aktuell eine Steigerung der jährlichen deutschen Bildungsausgaben in Höhe von gut 120 Milliarden Euro (!) erforderlich. Um das Niveau von Dänemark oder Schweden zu erreichen, müssten jährlich knapp 50 bzw. gut 70 Milliarden Euro mehr ausgegeben werden.
Neben dem internationalen Vergleich ist auch das dauerhafte Verfehlen des 2008 beim Dresdener Bildungsgipfel von der Bundesregierung unter Angela Merkel verkündeten 10%-Ziels für Bildung & Forschung ein Beleg für die Unterfinanzierung des deutschen Bildungssystems. 2008 war vereinbart worden, dass die Bildungsausgaben steigen und ab 2015 mind. 10% des BIP betragen sollten. Obwohl die Bundesregierung in ihre Berechnungsgrundlage, das sogenannte nationale Bildungsbudget, auch Bildungsausgaben von Privathaushalten und Unternehmen mit einfließen lässt – was im internationalen Vergleich absolut unüblich ist und die Aussagekraft der bundesdeutschen Bildungsausgaben verzerrt – wurde das 10%-Ziel kein einziges Mal erreicht. Seit 2015 hat Deutschland im Schnitt jedes Jahr knapp 20 Milliarden Euro weniger für Bildung & Forschung ausgegeben als vorgesehen war. Der Einbruch des BIP während der Corona-Pandemie und die deswegen kurzfristig prozentual höher erscheinenden Ausgaben für Bildung & Forschung können über die massive Unterfinanzierung in diesem Bereich nicht hinwegtäuschen.“ News4teachers
Initiatoren des Bildungsappells sind “Schule muss anders”, “Teachers for Future” und die Elternvertretung “ARGE-SEB“. Bereits mehr als 170 Organisationen, darunter die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), ver.di, der Bundeselternrat, das Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen für Bildung & Teilhabe (bbt), der Bundesverband der Kita- und Schulfördervereine, Greenpeace, Fridays for Future, der Bildungsrat von unten und Omas for Future, haben sich hinter den Appell gestellt. Geplante Demonstrationen:
- Baden-Württemberg
– Freiburg: Europaplatz, 12:05 Uhr
– Karlsruhe: Kirchplatz vor der Stephanskirche, 12:05 Uhr
– Stuttgart: Schloßplatz an der Commerzbank, 12:05 Uhr
– Konstanz: Hafen am Konzilvorplatz, 15:00 Uhr
- Bayern
– München: Königsplatz, 12:05 Uhr
– Erlangen: Schlossplatz, 11:00 Uhr
- Berlin
– Start: 11 Uhr, Brandenburger Tor
– Abschlusskundgebung: 12:05 Uhr, Rotes Rathaus
- Brandenburg
– Potsdam: Beginn: 12:05 UhrLandtag, Alter Markt
Sternenläufe zum Landtag:
10.30 Uhr: Die Platte (Potsdam-West)
11.00 Uhr: Hymboldtgymnasium (Heinrich-Mann-Allee)
11.00 Uhr: OSZ Technik (Jägerallee)
- Bremen
– Auftakt 11:00 Uhr Bahnhofsvorplatz zum Theater am Goetheplatz; Ende 13:30 Uhr
- Hamburg
– Jungfernstieg bis Dammtor 12:05 – 14 Uhr, Route Jungfernstieg (Nähe Reesendammbrücke), Neuer Jungfernstieg, Alsterglacis, Mittelweg, Bf. Dammtor, Shell Tankstelle Parkplatz
- Hessen
– 20.09. Frankfurt:
15:00 Uhr: am DGB-Haus
16:30 Uhr: Abschlusskundgebung an der Alten Oper
- Mecklenburg-Vorpommern
– Rostock
– Neubrandenburg
- Niedersachsen
– Hannover: 12:05 Uhr am Lindener Berge 11 (vor der IGS Linden) ab 12:30 Uhr: Demonstrationszug zur Zwischenkundgebung am Platz der Göttinger Sieben zwischen 13:15 und 13:30 Uhr; Zwischenkundgebung in der Odeonstr. ca. 14:30 Uhr
– Lüneburg: 11:00 Uhr Clamart-Park
– Oldenburg: 12:05 Uhr Bahnhofsvorplatz, Demoende am Waffenplatz mit einer Kundgebung
– Osnabrück: 11 Uhr Stadttheater zum Nikolaiort, Demoroute: Krahnstraße zur Bierstraße, Platz vor dem Alten Rathaus (Kundgebung)
– Salzgitter: Kundgebung ab 12 Uhr am Platz vor dem Stadtmonument
– Wolfenbüttel 10-12 Uhr Mahnwache vor dem Löwentor
– Braunschweig: 11.00 – 13.00 Uhr Kundgebung in der Braunschweiger Innenstadt
– Papenburg: 12.05 Uhr Bahnhof, Demoende auf dem Marktplatz beim Krankenhaus
- Nordrhein-Westfalen
– Köln: 13:00 Uhr Demo Start am Heumarkt, 15:00 Uhr Kundgebung auf dem Heumarkt
- Rheinland-Pfalz
– Mainz: 16:30 Uhr Markt am Dom
- Sachsen
– Leipzig: 12:05 Uhr Kundgebung Augustusplatz
- Sachsen-Anhalt
– Halle: 14-16 Uhr, Steintor – IGS – Hallmarkt – Universitätsplatz
- Saarland
– Saarbrücken: 11–12 Uhr, Landwehrplatz
- Schleswig-Holstein
– Kiel: 12:05 Start am Gewerkschaftshaus, Abschlusskundgebung am Bootshafen
- Thüringen
– Erfurt:11:30 Uhr Eröffnung Willy-Brandt-Platz,
12:05 Uhr Start Protestmarsch,
Fischmarkt (Zwischenkundgebung),
Thüringer Staatskanzlei (Kundgebung und Abschluss)