GENF. Vor zwei Wochen hat Deutschland vor dem UN-Fachausschuss in Genf berichten müssen, wie die UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt wird. Jetzt liegt das Ergebnis dieser Staatenprüfung vor. Einer der deutlichsten Kritikpunkte: Die Vereinten Nationen vermissen einen Plan zur Umsetzung der inklusiven Bildung in Deutschlands Schulen.
Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, die der Bundestag 2009 ratifiziert hat, schreibt Deutschland unter anderem vor, „ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen“ zu entwickeln. Die Bundesregierung war nun aufgefordert, nach nunmehr 14 Jahren die Fortschritte dabei gegenüber den Vereinten Nationen darzustellen. Gleichzeitig wurde ein Gutachten des eigens damit beauftragten Instituts für Menschenrechte eingeholt. Das Ergebnis dieser Prüfung fällt vernichtend aus.
Die Bundesregierung wird in dem Prüfbericht dringend aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Bundesländer umfassende Aktionspläne vorlegen und umsetzen, um die Umwandlung der Sonderbeschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in eine inklusive Beschulung zu beschleunigen. Der Fachausschuss formuliert seine „Besorgnis“ über das Weiterbestehen und die weite Verbreitung von Förderschulen und Sonderklassen in vielen Bundesländern.
Im Wortlaut heißt es: „Der Ausschuss ist besorgt über die mangelnde vollständige Umsetzung inklusiver Bildung im gesamten Bildungssystem, die Verbreitung von Sonderschulen und -klassen sowie die verschiedenen Hindernisse, denen Kinder mit Behinderungen und ihre Familien bei der Einschreibung und dem Abschluss eines Studiums an Regelschulen gegenüberstehen.“ Als konkrete Misstände werden benannt:
- Das Fehlen klarer Mechanismen zur Förderung inklusiver Bildung in den Ländern und auf kommunaler Ebene;
- Die „Missverständnisse und die negative Wahrnehmung von inklusiver Bildung in einigen Führungsgremien“, die den Wunsch der Eltern, ihre Kinder in die Regelschule einzuschreiben, möglicherweise als Hinweis auf „Unfähigkeit, sich um ihr Kind zu kümmern“ werten;
- Der Mangel an Zugänglichkeit und Unterbringung in öffentlichen Schulen und der Mangel an barrierefreien Transportmitteln, insbesondere in ländlichen Gebieten;
- Unzureichende Schulung von Lehrern und nichtlehrenden Mitarbeitern im Hinblick auf das Recht auf inklusive Bildung sowie die Entwicklung spezifischer Fähigkeiten und Unterrichtsmethoden und berichteter Druck auf Eltern, Kinder mit Behinderungen in Sonderschulen einzuschreiben.
Aufgrund der Prüfungsergebnisse empfiehlt der Ausschuss „dem Vertragsstaat“, also Deutschland, einen „umfassenden Plan zur Beschleunigung des Übergangs von der Sonderschulbildung zur inklusiven Bildung auf Landes- und Kommunalebene mit konkreten Zeitrahmen, Zuweisung personeller, technischer und finanzieller Ressourcen sowie klaren Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und Überwachung“ zu entwickeln. Darüber hinaus sollten „Sensibilisierungs- und Aufklärungskampagnen“ durchgeführt werden, um inklusive Bildung auf Gemeindeebene und bei den zuständigen Behörden zu fördern.
Es sei sicherzustellen, „dass Kinder mit Behinderungen Regelschulen besuchen können, unter anderem durch die Verbesserung der Zugänglichkeit und der Unterbringungsmöglichkeiten für alle Arten von Behinderungen und die Bereitstellung geeigneter Transportmöglichkeiten, insbesondere in ländlichen Gebieten“.
„Bisher sehen wir weitgehendes Nichtstun unter dem Vorwand, dass es ein vorgebliches Elternwahlrecht gebe“
Die Vereinten Nationen erwarten von Deutschland darüber hinaus „eine kontinuierliche Fortbildung für Lehrkräfte und nichtlehrendes Personal in inklusiver Bildung auf allen Ebenen (…), einschließlich Schulungen in Gebärdensprache und anderen zugänglichen Informations- und Kommunikationsformaten“. Ein Überwachungssystem sei zu entwickeln, „um alle Formen direkter und indirekter Diskriminierung von Kindern mit Behinderungen und ihrer Familien zu beseitigen“.
Weiter heißt es: „Der Ausschuss ist besorgt über den Mangel an Daten über den Zugang von Flüchtlingskindern mit Behinderungen zu Bildung und Regelschulen.“ Empfohlen wird, dass „der Vertragsstaat“ ausreichende Ressourcen für die regelmäßige Erhebung von Daten bereitstellt – aufgeschlüsselt nach Geschlecht und Art der Behinderung, über die Anzahl und den Anteil von Flüchtlingskindern mit Behinderungen, die Zugang zu Bildung haben, über Schülerinnen und Schüler, die in Regel- und Sonderschulen eingeschrieben sind, wie auch über Abbrecherquoten.
„Bisher sehen wir weitgehendes Nichtstun unter dem Vorwand, dass es ein vorgebliches Elternwahlrecht gebe“, sagt Eva-Maria Thoms, Vorsitzende des Elternvereins Mittendrin. „dabei müsste erst einmal ein flächendeckendes Angebot an inklusiven Schulen in akzeptabler Qualität geschaffen werden, bevor man von einer ‚Wahl‘ sprechen könnte.“
Mit Blick auf Nordrhein-Westfalen fordert sie, das Schulministerium müsse nun endlich den auch im Koalitionsvertrag angekündigten Aktionsplan für die inklusive Bildung erarbeiten und die Führungsrolle für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems in NRW übernehmen. Denn aktuell gehe die Entwicklung in Nordrhein-Westfalen in die falsche Richtung. In vielen Kommunen werde sogar der Bau neuer zusätzlicher Förderschulen geplant. Thoms: „Dies sind eindeutige Verstöße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention, die gerade angesichts der Ergebnisse der Staatenprüfung sofort gestoppt werden müssen.“ News4teachers
Hier geht es zum vollständigen Prüfungsbericht.
„Inklusion stockt“: Nach UN-Prüfung erwarten Elterninitiativen Rüge für Deutschland
