Website-Icon News4teachers

Der “Akademisierungswahn” ist nur ein Mythos – dass die Ausbildung leidet, weil das Studium boomt, stimmt gar nicht

GÜTERSLOH. Expertinnen und Experten vom CHE Centrum für Hochschulentwicklung beklagen verbreitete Fehlannahmen zu Ausbildung und Studium und versuchen mit einem Faktencheck gegenzusteuern. Eine davon: der Akademisierungswahn. Den Gütersloher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zufolge greift es zu kurz, den aktuellen Auszubildendenmangel in Deutschland allein mit einer wachsenden Beliebtheit des Studiums zu begründen.

„Fehlinformationen zu Studium und Ausbildung können Fehlentscheidungen zur Folge haben”: Studierende in Leipzig. Foto: Heiko Kueverling / Shutterstock

Der Mehrheit der Jugendlichen fällt es schwer, nach der Schule eine Entscheidung für eine Berufsausbildung oder ein Studium zu treffen. Rund um die nachschulische Bildung in Deutschland hätten sich in der öffentlichen Wahrnehmung einige Fehlannahmen etabliert, stellen dazu Wissenschaftler des CHE Centrums für Hochschulentwicklung fest. In einer aktuellen Analyse hat das CHE gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung einige weit verbreite Annahmen zur nachschulischen Bildung einem Faktencheck unterzogen.

Missverständnisse zu Ausbildung und Studium kursierten dem Faktencheck zufolge gleichermaßen in Gesellschaft und Politik. Sie beträfen dabei sowohl die berufliche Ausbildung als auch das Studium. Eine oft geäußerte Falschannahme sehe etwa in der Rekordzahl an Studierenden die ausschließliche Ursache für den Mangel an Auszubildenden.

Anzeige

Ein Vergleich der Studienanfängerinnen und -anfängerzahlen zeigt, dass der demografische Rückgang die berufliche Bildung stark betrifft. So sank die Zahl der neuen Auszubildenden zwischen 2011 und 2021 von 733.000 auf 660.000. Gleiches galt allerdings auch für die akademische Bildung. Die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger war im selben Zeitraum von 519.000 auf 470.000 zurückgegangen – und damit immer noch kleiner als die Gruppe derjenigen, die in eine Ausbildung starten.

Hinzu kommt den Forscherinnen und Forschern zufolge: Keine der drei Berufsgruppen mit dem höchsten Anteil an unbesetzten Ausbildungsplätzen steht in direkter Konkurrenz zu einem akademischen Studienangebot. Dabei handelt es sich um Klempnerinnen und Klempner, Fachverkäuferinnen und -verkäufer im Lebensmittelhandwerk sowie Fleischerinnen und Fleischer.

Auch die Annahme, dass immer größere Anteile der Schülerinnen und Schüler ein Abitur erwerben, bestätigt sich laut dem Faktencheck nicht. Seit rund zehn Jahren sei kein wesentlicher Anstieg der Studienberechtigtenquote mehr zu beobachten. So habe sie 2021 lediglich 48,4 Prozent betragen, während es zum Höhepunkt im Jahr 2015 noch 53 Prozent gewesen seien.

„Gesamtgesellschaftlich ist es angesichts des Fachkräftemangels wichtig, junge Menschen bei der Wahl des passenden Berufs bestmöglich zu unterstützen“

Die weit verbreiteten Falschaussagen, darunter auch die Behauptung „Nur Akademikerinnen und Akademiker verdienen richtig gut“, träfen auf eine in weiten Teilen verunsicherte junge Generation. Vielen falle es schwer, am Ende der schulischen Laufbahn eine Entscheidung über ihren weiteren Bildungsweg zu treffen. Dies zeigten etwa die Ergebnisse der repräsentativen Jugendbefragung, die die Bertelsmann Stiftung im August veröffentlicht hatte. Darin gaben 55 Prozent der befragten Jugendlichen an, sich zwar ausreichend informiert zu fühlen, sich aber in der Fülle der Informationen nicht zurechtzufinden (News4teachers berichtete).

„Fehlinformationen zu Studium und Ausbildung können Fehlentscheidungen zur Folge haben. Für die Jugendlichen selbst führt das zu großem Frust, verpassten Chancen und dem Gefühl, Lebenszeit und Energie vergeudet zu haben. Doch auch gesamtgesellschaftlich ist es angesichts des Fachkräftemangels wichtig, junge Menschen bei der Wahl des passenden Berufs bestmöglich zu unterstützen. Niemand darf beim Übergang von der Schule in den Beruf verloren gehen“, betont dazu Bertelsmann-Project Managerin Caroline Schnelle.

Für die Berufswahl seien Offenheit und Flexibilität wichtig. Doch dem entgegen stehe ein weiteres Vorurteil: „Nach der Schule muss man sich zwischen Studium und Ausbildung entscheiden – danach steht der weitere berufliche Weg endgültig fest.“ „Dieser Irrglaube hält sich hartnäckig, stimmt aber einfach nicht“, betont Ulrich Müller, Leiter politische Analysen beim CHE. „In der nachschulischen Bildung gibt es zunehmend Übergänge in beide Richtungen“, stellt Müller fest und fordert: „Gute Politik sorgt dafür, dass Fakten und nicht Mythen Gehör finden. Und sie nutzt auf Landes- und Bundesebene alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel und Wege, innovative Modelle der Zusammenarbeit von beruflicher und akademischer Bildung in die Breite zu tragen. Angesichts des Fachkräftemangels müssen jetzt alle politischen Akteure das Gesamtbild sehen und als Brückenbauer fungieren, damit niemand zwischen den Systemen verloren geht“.

Die Untersuchung stützt sich primär auf Daten aus der Bildungsberichterstattung, der Datenbank des Statistischen Bundesamts und den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit. Darüber hinaus umfasst der Faktencheck bisher unveröffentlichte Ergebnisse einer Jugendbefragung, die das Markt- und Meinungsforschungsinstitut iconkids& youth im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt hat. Dabei wurden im Zeitraum vom 2. bis 30. Juni 2023 insgesamt 1.694 Personen im Alter von 14 bis 25 Jahren befragt.

„Überakademisierung ist ein Irrweg!“ Handwerkspräsident fordert Wende in der Bildung

Die mobile Version verlassen