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Manifest fordert Stopp des Einsatzes digitaler Medien im Unterricht bis Klasse sechs – mit fragwürdigen Argumenten

BERLIN. Drei Dutzend Professorinnen und Professoren, Ärzt*innen und Pädagog*innen sorgen mit einem Manifest für Wirbel, in dem sie eine „einseitige Fixierung auf Digitaltechnik in Kitas und Schulen“ kritisieren – und ein Moratorium für den IT-Einsatz bis Klasse sechs fordern. In ihrer Argumentation lassen sie allerdings Wissenschaftlichkeit vermissen. Sie rühren zusammen, was nicht zusammen gehört. 

Dass der Überkonsum digitaler Medien in Kinderzimmern zu Problemen führt, ist unstrittig – aber was hat das mit Lernmedien im Unterricht zu tun? (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Das Manifest beginnt mit einer Erzählung. „Die skandinavischen Länder waren Vorreiter in der Digitalisierung von Bildungseinrichtungen. Doch korrigierte die schwedische Regierung 2023 die Entscheidung ihrer Vorgänger, bereits Vorschulen des Landes verpflichtend mit digitalen Geräten auszustatten. Der Grund für das Umdenken ist die Stellungnahme von fünf Professorinnen und Professoren des renommierten Karolinska-Instituts (Stockholm), die die Strategie der Digitalisierung der Nationalen Agentur für Bildung in einem Gutachten als falsch kritisierte“, so heißt es.

Und weiter: „Die behaupteten positiven Befunde wären nicht evidenzbasiert, die Forschung habe stattdessen gezeigt, dass ‚die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler‘ habe. Die ausgelobten Ziele (Bildungs- und Chancengerechtigkeit, Unterrichtsverbesserung, gesellschaftliche Teilhabe) würden nicht erreicht, im Gegenteil: ‚Es ist offensichtlich, dass Bildschirme große Nachteile für kleine Kinder haben. Sie behindern das Lernen und die Sprachentwicklung. Zu viel Bildschirmzeit kann zu Konzentrationsschwierigkeiten führen und die körperliche Aktivität verdrängen‘ (Karolinska-Institut 2023). Die liberale schwedische Bildungsministerin Lotta Edholm stoppte daraufhin den Tablet-Einsatz in der Primarstufe: ‚Bildschirme haben in Vorschulen einfach nichts zu suchen‘, so die Ministerin.“

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Mit dieser Geschichte leiten drei Dutzend deutsche Professorinnen und Professoren, Ärzt*innen und Pädagog*innen die Begründung ihrer Forderung eines „Moratoriums“ – also eines Stopps – der Digitalisierung in deutschen Kitas und Schulen bis Klasse sechs ein. Richtig daran ist, dass die neue konservativ geführte schwedische Regierung einen bildungspolitischen Schwenk vollzogen hat: zurück zu analogen Lernmedien, zumindest teilweise. Dass eine Stellungnahme von fünf Professoren (also nicht mal eine Studie) dafür der Anlass gewesen sei, kann allerdings getrost als Märchenerzählung gelten. Politische Entscheidungen kommen so nicht zustande.

Hintergrund: Das zweifellos renommierte Karolinska-Institut ist eine medizinische Forschungseinrichtung, keine bildungswissenschaftliche. Dass „die“ Forschung gezeigt hätte, dass „die Digitalisierung der Schulen große, negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler“ habe, wie die deutschen Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Manifests nun behaupten – ist schlicht falsch. Würden Studien wie Pisa, Timss oder Iglu solch monokausale Erklärungen für Leistungseinbrüche von Schülerinnen und Schülern liefern, bräuchten wir uns über Bildungspolitik nicht mehr zu streiten.

Entsprechend behaupten die Autorinnen und Autoren, darunter der der Medienpädagoge Prof. Ralf Lankau, der Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer und der Schulpädagogik-Professor Klaus Zierer: „Das korrespondiert mit Untersuchungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und Empfehlungen von Kinderärzten und Psychologen.“

Ein genauerer Blick zeigt: Tatsächlich beschäftigt sich die zitierte „Leitlinie zur Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs in Kindheit und Jugend“ der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin ausführlich mit dem Missbrauch digitaler Medien in den Kinderzimmern. Der Einsatz digitaler Medien in Kita und Schule wird hingegen mit keinem Wort erwähnt – ein bemerkenswert laxer Umgang mit wissenschaftlichen Quellen für gestandene Wissenschaftler*innen. Kaum vorstellbar, dass Studierenden das in einer Hausarbeit so abgenommen würde.

„Tatsächlich sind die Wirkungen und Nebenwirkungen digitaler Medien auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse wissenschaftlich oft ungeklärt“

So wird in dem Manifest fröhlich ineinander geworfen, was sauber zu trennen wäre: Medienüberkonsum zu Hause – und der Einsatz von digitalen Bildungsmedien. „Digitalisierung gilt derzeit im Bildungsbereich für alle Altersstufen als zeitgemäße Lösung von Bildungsfragen. Tatsächlich sind die Wirkungen und Nebenwirkungen digitaler Medien auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse wissenschaftlich oft ungeklärt. Vielmehr verdichten sich die wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien“, so schreiben die Autorinnen und Autoren.

Und weiter: „Im Sinne der Fürsorgepflicht öffentlicher Bildungseinrichtungen fordern wir daher ein Moratorium der Digitalisierung insbesondere der frühen Bildung bis zum Ende der Unterstufe (Kl. 6): Es müssen zuerst die Folgen der digitalen Technologien abschätzbar sein, bevor weitere Versuche an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen mit ungewissem Ausgang vorgenommen werden. Diese haben nur ein Leben, nur eine Bildungsbiografie und wir dürfen damit nicht sorglos umgehen.“

Die Diktion, die Menschenversuche in Kitas und Grundschulen unterstellt, ist ärgerlich – umso mehr, weil die Autorinnen und Autoren in einem Punkt ja durchaus Recht haben könnten: Ein unreflektierter Einsatz digitaler Lernmedien wäre womöglich kontraproduktiv. Auf der anderen Seite steht allerdings eine digitale Realität, die Kinder heute von klein auf prägt. Sie werden lernen müssen, damit umzugehen. Wie eine zeitgemäße Medienerziehung ohne digitale Medien funktionieren soll? Die Antwort auf diese Frage bleiben die Autorinnen und Autoren schuldig.

Stattdessen kommen Aussagen, die so schief sind, dass es schmerzt. Wie diese: „Die flächendeckende Ausstattung der Schulen mit Tablets (wie vordem mit Laptops oder PCs) ist weder aus erziehungswissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer noch aus lernpsychologischer Sicht begründbar. Das Bildungsniveau sinkt seit Jahrzehnten, trotz stetig steigender Ausgaben für IT und deren Einsatz im Unterricht. Zwar gibt es immer mehr Abschlüsse und bessere Noten, die Lernleistungen selbst werden aber konstant schlechter (KMK 2022). Daher war und ist Technik statt qualifiziertem Unterricht keine Lösung.“

Zur Erinnerung: Die Digitalisierung der Schulen in Deutschland ist in der Fläche mit dem Digitalpakt angelaufen, der 2019 gemächlich startete. Das Bildungsniveau ist also schon längst vor dem Einzug von IT in die Klassenräume gesunken (laut Pisa seit 2012) – hier einen Zusammenhang zu postulieren, ist schräg. Das Gegenteil ist richtig, wie die aktuelle Pisa-Studie aufgezeigt hat: Dass Schülerinnen und Schüler in Deutschland während der Pandemie so stark abgeschmiert sind wie in kaum einem anderen Land, hatte mit der unzureichenden Digitalisierung der Schulen seinerzeit zu tun. Es gab hierzulande eben keine digitale Alternative zum Präsenzunterricht – anders als in anderen Staaten.

Einen vergleichbar geringen Realitätsgehalt hat auch die Behauptung, „digitale Medien verstärken und fördern die Bildungsungerechtigkeit sowohl national wie international“, wie es unter Berufung auf die ICILS-Studie 2018 heißt. Die aber hat soziale Disparitäten bei der digitalen Kompetenz von Schülerinnen und Schülern in Deutschland deshalb ausgemacht, weil die Schulen gerade nicht flächendeckend mit IT ausgestattet waren – und die Kinder und Jugendlichen deshalb auf Kompetenzen angewiesen waren, die sie zu Hause erworben hatten. Oder eben (wie in bildungsfernen Familien häufiger) nicht.

So bleibt der Eindruck einer Glaubensschrift, mit der Politik gemacht werden soll. Die – wichtige – Debatte um einen sinnvollen Einsatz digitaler Medien in Kita und Schule hätte einen fundierteren Einwurf verdient gehabt. Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus

Hier geht es zu dem “Manifest”.

Ein Tablet für jeden Schüler? Pädagogik-Professor Zierer warnt vor „Digitalisierungswahn“ in der Bildungspolitik

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