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“Noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen”: Schleicher brüskiert deutsche Lehrer

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STUTTGART. Pisa-Koordinator Prof. Andreas Schleicher hat sich unbeliebt bei Lehrkräften in Deutschland gemacht. „Ich habe, ganz ehrlich, wenig Verständnis für Lehrer, die nur darauf pochen, dass sie überlastet seien“, sagte der OECD-Direktor der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“. „Eine solche Haltung würde in keinem anderen Job akzeptiert.“ Deutschland sei „beim Lehrerberuf noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen“. Scharfer Widerspruch kam von den Lehrergewerkschaften.

“Mr. PISA”: OECD-Direktor Andreas Schleicher. Foto: SPÖ / Mag. Gisela Ortner / flickr (CC BY-SA 2.0)

Schülerinnen und Schüler seien „relativ gut darin, auswendig gelerntes Wissen wiederzugeben“, erklärte Schleicher. Vielen falle es aber schwer, ihr Wissen auf neue Zusammenhänge zu übertragen. Sie könnten Fakten nicht gut genug von Meinungen unterscheiden. In deutschen Klassenzimmern habe die Umstellung, „den Kindern und Jugendlichen vor allem selbstständiges Denken beizubringen“, noch nicht ausreichend stattgefunden.

Er betonte: „Die deutschen Lehrer sind im internationalen Vergleich sehr gut bezahlt. Lehrkräfte können sich nicht einfach darauf zurückziehen, dass sie viel zu tun haben – und dass sie sich deshalb nicht gemeinsam mit Kollegen treffen könnten, um bessere Unterrichtskonzepte zu entwickeln.“ Mehr Geld sei „immer gut“, sagt der Pisa-Chef, doch nicht notwendig. Man könne auch „ohne zusätzliches Geld große Verbesserungen erreichen.“ Schleicher erklärt: „Es geht darum, die Mittel dort zu konzentrieren, wo sie am meisten gebraucht werden. Das ist erstens in den Grundschulen und auch schon davor – und nicht so sehr in den Gymnasien.“
Lehrkräfte müssten „Coaches“ für die Kinder und Jugendlichen sein, forderte Schleicher. Sie müssten ihnen „bei ihren individuellen Lernprozessen helfen“. Zudem müsse ein guter Pädagoge den Eltern als Bezugspersonen zur Seite stehen. „Er kennt die Eltern und besucht sie, wenn nötig, zu Hause.“ Schleicher: „Meine Bitte an die Lehrer ist: Machen Sie sich auf den Weg! Schauen Sie nicht nach oben, sondern im Lehrerzimmer direkt zur Kollegin oder zum Kollegen neben sich. Lehrer können gemeinsam an Schulen viel zum Guten verändern. Dafür braucht es keinen Erlass aus dem Kultusministerium.“ Zu viele Lehrer sähen sich in erster Linie als Befehlsempfänger, die im Klassenzimmer statisch einen Lehrplan abarbeiten müssten.

„Schleicher macht diejenigen zum Buhmann, die wichtige Motoren der Entwicklung sein müssen – und wollen“

Als „kontraproduktiv und am Arbeitsalltag der Lehrkräfte völlig vorbei“ bezeichnete GEW-Vorsitzende Maike Finnern die Aussagen. „Viele Studien und jüngst die neueste PISA-Studie haben deutlich gemacht, dass das Schulsystem in Deutschland vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss, Kinder länger gemeinsam lernen müssen. Politik, Verwaltung, Gewerkschaften und Beschäftigte müssen sich gemeinsam auf den Weg machen, um dieses große Rad zu drehen. Jetzt Lehrkräfte-Bashing zu betreiben und ihnen fast ausschließlich die Verantwortung für die Misere in die Schuhe zu schieben, hat nichts mit der Realität zu tun und macht diejenigen zum Buhmann, die wichtige Motoren der Entwicklung sein müssen – und wollen“, betonte sie.

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„Wer ausblendet, dass in Deutschland der größte Lehrkräftemangel in der Geschichte herrscht, der die Lehrerinnen und Lehrer seit Jahren ans Belastungslimit bringt und die notwendigen Reformen blockiert, argumentiert nicht seriös. Alle Arbeitszeit- und Belastungsstudien belegen, dass der Lehrberuf extrem herausfordernd ist. Die Landesregierungen und Kultusministerien müssen endlich umsteuern: Sie müssen mehr junge Menschen für den Lehrberuf ausbilden und zusätzliche Lehrkräfte einstellen. Deshalb muss für den Beruf des Lehrers, der Lehrerin mit attraktiven Arbeitsbedingungen geworben werden – und nicht die Lehrkräfte, die unter schlechten Rahmenbedingungen, die sie nicht zu verantworten haben, leiden und trotzdem das Beste für mehr Chancengleichheit der Kinder und Jugendlichen geben, in den Senkel gestellt werden. Und: Das ist auch eine Frage des Geldes, das in die Schulen investiert wird.“

Hintergrund: Deutschland gibt mit 4,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Verhältnis deutlich weniger für Bildung aus als Estland (2020: 6,6 Prozent des BIP), das bei der aktuellen Pisa-Studie im europäischen Vergleich vorne liegt. Auch Schweden (7,2 Prozent), Belgien (6,7 Prozent), Dänemark (6,4 Prozent), Finnland (5,9 Prozent), Frankreich (5,5 Prozent), Großbritannien (5,5 Prozent) und die Niederlande (5,3 Prozent) investieren zum Teil deulich mehr in die Bildung.

„Die Aussagen von Andreas Schleicher tragen sicher nicht dazu bei, den Lehrberuf in irgendeiner Weise positiv zu begleiten“

Der VBE reagierte mit Zynismus auf die Aussagen des Pisa-Chefs. „Wir bedanken uns bei Andreas Schleicher für die weisen Worte und Ratschläge aus dem Elfenbeinturm. Ein Mann, der in seinem ganzen Leben noch nie vor einer Klasse gestanden hat, maßt sich an, beurteilen zu können, was Lehrkräfte leisten.“ Belastungsstudien kämen zu anderen Aussagen. Der VBE-Bundesvorsitzende Gerhard Brand meinte: „Die Aussagen von Andreas Schleicher tragen sicher nicht dazu bei, den Lehrberuf in irgendeiner Weise positiv zu begleiten. Im Gegenteil: Er leistet dem Berufsbild einen absoluten Bärendienst.“

Die deutschen Schülerinnen und Schüler hatten in der internationalen Leistungsstudie Pisa im Jahr 2022 so schlecht abgeschnitten wie noch nie zuvor (News4teachers berichtete). Sowohl im Lesen als auch in Mathematik und Naturwissenschaften handle es sich um die niedrigsten Werte, die für Deutschland jemals im Rahmen von Pisa gemessen wurden. Auch international sei die durchschnittliche Leistung drastisch gesunken, teilte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bei der Veröffentlichung der Studie Anfang Dezember mit. Es war das erste Pisa-Zeugnis seit der Corona-Pandemie. News4teachers

Schleicher lässt erkennen, dass Deutschland vor einem neuen PISA-Debakel steht – „Soziale Beteiligung ist das Thema“

 

 

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