DORTMUND. Mädchen in Deutschland erreichen durchschnittlich eine signifikant höhere Punktzahl in der Lesekompetenz als Jungen. Während in einigen Ländern der geschlechterspezifische Lesekompetenzunterschied zurückgegangen ist, zeigt sich für Deutschland im 20-Jahre-Trend keine signifikante Veränderung. Dies ist das Ergebnis einer Sonderauswertung von IGLU-Daten, die Forscherinnen und Forscher des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund nun vorgelegt haben.
Die Entwicklung der Lesekompetenz hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die das IFS auf Basis der repräsentativen IGLU-Daten in den Blick nimmt. Wie groß ist der Geschlechterunterschied bei der Lesekompetenz in Deutschland und im internationalen Vergleich? Was hat sich in den vergangenen 20 Jahren verändert? Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede in der Lesemotivation und bei dem Leseselbstkonzept? Wie motivierend nehmen Grundschulkinder den Leseunterricht wahr? Dabei zeigt sich, dass Mädchen gegenüber Jungen in allen Kategorien signifikant höhere Werte aufweisen.
Die Ergebnisse der jüngsten IGLU-Studie zeigen, dass der Lesekompetenzvorsprung von Mädchen gegenüber Jungen in der vierten Klasse 15 Punkte beträgt. International liegt Deutschland damit im Mittelfeld (ebenfalls 15 Punkte) und etwas über der Vergleichsgruppe EU (11 Punkte) und OECD (12 Punkte). Die Geschlechterdifferenz besteht auch bei unterschiedlichen Textsorten.
„Übereinstimmend mit den bisherigen empirischen Befunden ergeben die Analysen mit den IGLU-2021-Daten, dass die geschlechterspezifischen Unterschiede weiterhin sowohl für informierende als auch für erzählende Texte signifikant ausfallen. Der Einfluss des Geschlechts auf die erreichte Punktzahl fällt dabei für die beiden Textsorten nicht signifikant unterschiedlich hoch aus, auch wenn sich für erzählende Texte eine nominell größere Geschlechterdifferenz als bei informierenden Texten zeigt“, so heißt es in der Studie.
Während international in fast allen teilnehmenden Staaten und Regionen Mädchen gegenüber Jungen einen Kompetenzvorsprung besitzen, gibt es auch Länder, bei denen kein systematischer Lesekompetenzunterschied zwischen den Geschlechtern festzustellen ist, wie beispielsweise in Tschechien oder Spanien. „Der 20-Jahre-Trend zeigt, dass der geschlechterspezifische Lesekompetenzunterschied in Deutschland zwischenzeitlich zwar geringer ausfiel, sich aber zwischen 2001 und 2021 nicht signifikant verändert hat“, führt Projektmitarbeiterin Laura Becher aus und erläutert:„Anderen Ländern und Regionen wie Hongkong, Tschechien oder Schweden ist es hingegen gelungen, die Geschlechterdifferenz in der Lesekompetenz über die Jahre hinweg signifikant zu verringern.“
Mädchen in Deutschland weisen eine deutlich höhere Lesemotivation auf als Jungen. Neben der Lesemotivation wurde auch das Leseselbstkonzept untersucht. Das Leseselbstkonzept beschreibt die Einschätzung einer Person, wie gut sie eine bestimmte Aufgabe bewältigen kann und ist eine weitere wichtige motivationale Variable zur Erklärung der Geschlechterdifferenz. Auch hier zeigt sich, dass Mädchen ein signifikant höheres Leseselbstkonzept aufweisen.
Für die Lesekompetenz ist außerdem von Bedeutung, wie gut die Kinder im Unterricht zum Lesen motiviert werden. Diese Motivierungsqualität wird von Mädchen und Jungen unterschiedlich wahrgenommen, Mädchen geben an, dass sie den Unterricht als motivierender wahrnehmen als Jungen.
„Es wird deutlich, dass, insbesondere für Jungen neben der Förderung des Kompetenzerwerbs auch die Förderung motivationaler Aspekte von Relevanz ist. Da die hier berichteten Ergebnisse sowie frühere empirische Befunde nahelegen, dass die Motivation in signifikantem Zusammenhang mit der Motivierungsqualität des Unterrichts steht, wäre denkbar, die Motivierung der Jungen zum Lesen durch die Lehrkraft innerhalb des Unterrichtsgeschehens in den Fokus zu nehmen. Hierbei ist der bereitgestellte Lesestoff wichtig, da sich die Interessen der Mädchen und Jungen in den Textcharakteristika (Textsorte, Thema, Protagonisten, Schwierigkeit, etc.) unterscheiden (Lepper et al., 2021b). Darüber hinaus ist die Automatisierung des Leseprozesses von entscheidender Bedeutung, damit Schüler*innen sich folgend vermehrt auf den Inhalt der Texte konzentrieren können“, so heißt es in der Studie.
„Da die Motivation und die Motivierungsqualität in Zusammenhang stehen, sollte die Motivierung der Jungen zum Lesen durch die Lehrkraft innerhalb des Unterrichtsgeschehens stärker in den Fokus genommen werden“, erläutert die Studienleiterin Professorin Nele McElvany und gibt folgende Empfehlung: „Jungen interessieren sich teilweise für anderen Lesestoff als Mädchen. Dies gilt es bei der Auswahl für den Unterricht zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Lesen nur Freude machen kann, wenn in den ersten Schuljahren konsequent darauf geachtet wird, dass Kinder ausreichend Übungszeit bekommen, um die Leseprozesse zu automatisieren, und sich dann wirklich auf den Inhalt konzentrieren.“ News4teachers
