„Ganz vielen Dank für diese informative und spannende Veranstaltung sowie die interessanten Angebote.“ „Ich freue mich über ganz tolle Impulse heute, die man auch teilen kann.“ So und ähnlich lasen sich die Kommentare am Ende der Auftaktveranstaltung zur Reihe „Handschrift und Rechtschreibung auf dem Rückzug? Worauf es jetzt ankommt“. Der VBE Niedersachsen hatte gemeinsam mit dem vom Münsteraner Rechtschreibexperten Professor Friedrich Schönweiss gegründeten Lernserver-Institut öffentlich zur Online-Veranstaltung eingeladen. Als Gastreferentin war die Handschrift-Expertin und Pädagogin Maria-Anna Schulze Brüning angekündigt. Die Resonanz: Statt der erwarteten knapp 100 hatten sich fast doppelt so viele Interessent:innen angemeldet. Deshalb werden die Kapazitäten, so der VBE, für die nächsten kostenfreien Veranstaltungen, die das Thema weiter vertiefen und von verschiedenen Perspektiven – einschließlich Fallbeispielen – beleuchten sollen, verdoppelt.
Dass das Interesse so groß ist, dürfte nicht ganz unerwartet sein. Studien bestätigen seit Jahren das Absinken von Leistungen: „In einer Studie mit dem Schreibmotorik-Institut haben wir festgestellt, dass fast die Hälfte der Kinder nicht mehr richtig schreiben kann. Die Probleme liegen bei der Schreibstruktur, beim Tempo des Schreibens und der Leserlichkeit der Texte“, sagte der Landesvorsitzende des VBE Niedersachen Franz-Josef Meyer zum Auftakt (News4teachers berichtete). Und auch auf dem Gebiet der Rechtschreibung gebe es gravierende Probleme.
„Die Lehrer befinden sich in einem hoffnungslos überforderten Bildungssystem, das die Politik über Jahrzehnte hinweg heruntergewirtschaftet hat“
Die Ursachen? Darüber fand im Chat der Veranstaltung ein reger Austausch statt. „Die Lehrer befinden sich in einem hoffnungslos überforderten Bildungssystem, das die Politik über Jahrzehnte hinweg heruntergewirtschaftet hat“, schrieb beispielsweise eine:r der Teilnehmer:innen, die überwiegend als Lehrkräfte, Sozialpädagog:innen und Lerntherapeut:innen an unterschiedlichen Schulformen tätig sind – von der Grundschule bis hin zu beruflichem Gymnasium und zur Förderschule.
„Die Schulpflicht gibt es, aber gibt es auch eine Bildungspflicht? Bei uns in der Region […] haben wir an Schulen reihenweise Fächer, die im letzten Halbjahr so oft ausgefallen sind, dass keine Note auf dem Zeugnis notiert werden konnte (auch Hauptfächer)…“, hieß es in einem anderen Kommentar zum massiven Lehrkräftemangel. Auch die Quereinsteiger-Problematik wurde im Chat thematisiert: Vom Tierarzt bis zum ehemaligen Schulfotografen variierten die Ursprungsberufe der hinzugekommenen Kolleg:innen. Zudem seien gerade im Bereich des Hand- und Rechtschreibens fachfremde sowie noch nicht voll ausgebildete Kolleg:innen überfordert.
Weitere Probleme, die die Teilnehmer:innen identifizierten: Gerade in der Zeit der Corona- Lockdowns sei die praktische Übung, die oft zu Hause „nebenbei” von den Eltern durchgeführt werden sollte, massiv untergegangen. Außerdem forderten immer mehr sogenannte „Systemsprenger“ den vollen Einsatz von Zeit und Energie, so dass Kinder, die „nur” Schwierigkeiten beim Schreiben hätten, nicht adäquat betreut werden könnten.
Unterschiedliche Herkunftssprachen der Kinder, mangelndes Interesse mancher Eltern am Thema sowie der übermäßige Konsum digitaler Medien wurden ebenfalls als Hindernisse aufgeführt. Was einigen Lehrkräften auch unter den Fingern brannte: Das Fehlen geeigneter Fördermaterialien für ältere Schüler und Schülerinnen. Die Probleme mit dem Schreiben hörten schließlich keineswegs nach der 6. Klasse auf, so eine Lehrkraft: „Ich habe Schüler, die Aufgaben in der Zeit der Klausur nicht schaffen, weil sie mit 17 Jahren [noch] wie in der Grundschule schreiben.“
„Wer kann uns helfen, damit wir aus diesem Dilemma rauskommen?“, habe sich der VBE gefragt und sei dann auf den Lernserver, ein Tool zur Diagnose und individuellen Förderung der Rechtschreibkompetenzen, gestoßen, so Meyer. Über die nun zustande gekommene Zusammenarbeit freue sich der Verband sehr.
Der Lernserver sei ein Bildungsprojekt, das ziemlich rasch flügge geworden und den universitären Rahmen gesprengt habe, erklärte der Bildungsforscher Friedrich Schönweiss. Der Professor leitete bis 2021 den Arbeitsbereich „Neue Technologien im Bildungs- und Sozialwesen/Medienpädagogik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team aus Sprachwissenschaft, Informatik, Pädagogischer Praxis und Lerntherapie erforschte Schönweiss, welche Schwierigkeiten beim Umgang mit Sprache und Schrift auftauchen können, wie Rechtschreibfehler entstehen, was es braucht, um aus ihnen lernen zu können – und welche Chancen dabei moderne Technologien bieten. Aus dieser Arbeit ist unter dem Namen „Lernserver“ ein System entstanden, das KI-gestützte Förderdiagnostik und die Bereitstellung individualisierter Förderpläne und Übungsaufgaben vereint. Die Testung mit angeschlossener Förderung ist mittlerweile mit der Teststufe 7+ auch in der Mittelstufe möglich.
„Auch in Zeiten von KI, mit der wir bei der Fehleranalyse ja auch arbeiten, braucht es nach wie vor Menschen wie Sie, die die Kinder mit viel Feingefühl begleiten.“
Computer und Internet seien allerdings nicht das „goldene Kalb“, so Schönweiss. Vielmehr müsse man überlegen, wie man die vielen Möglichkeiten, die in digitalen Medien schlummern, so nutzen kann, dass der Beruf des Lehrers und der Lehrerin ein befriedigender ist. Die von den Teilnehmer:innen dargestellten Probleme beträfen Kinder aus allen Bildungsschichten, betonte Schönweiss. Mit dem Lernserver versuche man den Lehrkräften, aber auch den Kindern, zur Seite zu stehen, damit die Schulzeit nicht als eine verlorene Zeit angesehen werde.
Im Bezug auf das Thema Lese-Rechtschreib-Schwäche machte Maria-Valentina Westermann, Projektleiterin des Lernservers, deutlich, dass dies womöglich nicht unbedingt ein individuelles, sondern ein strukturelles Problem sei: „Kinder können sich Rechtschreibung nicht selbst beibringen“, so Westermann. Die Lernserver-Diagnostik trage daher dafür Sorge, dass Lehrkräfte, inklusive fachfremder Lehrpersonen und Quereinsteiger:innen die passenden Fördermaterialien für den aktuellen Lernstand des einzelnen Kindes erhalten – inklusive didaktischer Hinweise.
Auch Maria-Anna Schulze Brüning stellte in ihrer Analyse zur Problematik der Handschrift heraus, dass Kinder auf die Begleitung durch Erwachsene angewiesen sind. Aber: Warum überhaupt Handschrift? Warum nicht einfach Druckschrift? Und welche Rolle spielt die Stifthaltung? Diese Fragen stellte und beantwortete sie des Weiteren in ihrem Vortrag und räumte sogleich mit gängigen Vorannahmen auf, wie beispielsweise, dass die Druckschrift einfacher sei als die Schreibschrift. Damit stieß sie auf reges Interesse aus dem Publikum und weitergehende Fragen, wie zum Beispiel:
- Gibt es ein spezielles Training für Linkshänder? Schulze Brüning dazu: Nein, denn Linkshänder schreiben prinzipiell nicht unleserlicher als Rechtshänder, wie man zum Beispiel am Schriftbild von Kindern aus dem arabischen Sprachraum festgestellt habe, die von rechts nach links schreiben. Sie führen den Stift einfach von unten statt von oben.
- Welche Schrift sollten Kinder zuerst lernen? Sollten sie gar Schreib- und Druckschrift parallel erlernen? Schulze Brüning: Das Beispiel einiger neuer Bundesländer wie Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern zeige, dass das Lesen in Druckschrift und das Schreiben in Schreibschrift durchaus erfolgreich parallel erlernt werden könnten. Sie plädierte in jedem Fall dafür beim Schreiben direkt mit Schreibschrift zu beginnen. Später wieder umzustellen, koste viel Energie und Zeit, denn die erste Begegnung mit Schrift sei immer prägend.
- Sollten Kinder das Schreiben mit dem iPad bzw. digitalem Stift lernen? Schulze Brüning: Die Arbeit mit digitalen Endgeräten und analogen Mitteln läuft nicht gegeneinander, aber Kinder sollten als erstes mit geeigneteren Werkzeugen, wie etwa der Schiefertafel, die viel Druck aushält, sowie weichen Bleistiften auf rauem Papier das Schreiben ausprobieren, um ein Gefühl für das Schreiben zu bekommen, bevor sie beginnen, mit digitalen Mitteln zu arbeiten.
„Wir haben gemeinsam Einfluss darauf, in welche Richtung sich das Bildungswesen bewegt“, sagte Professor Schönweiss zum Abschluss der Veranstaltung und gab den Teilnehmer:innen mit auf den Weg: „Man muss nicht alles alleine leisten können, deswegen stehen wir ihnen hier auch zur Seite.“ Und: „Auch in Zeiten von KI, mit der wir bei der Fehleranalyse ja auch arbeiten, braucht es nach wie vor Menschen wie Sie, die die Kinder mit viel Feingefühl begleiten.“ News4teachers
Weitere Veranstaltungen der Reihe: „Handschrift und Rechtschreibung auf dem Rückzug? Worauf es jetzt ankommt“
- Juni 2024: Rechtschreibkompetenzen effektiv und zeitsparend verbessern
- September 2024: Schreibanfänger in der Sekundarstufe?
- November 2024: Praxisbeispiele aus der Rechtschreibförderung
Anmeldung: vbe-laender-akademie.de