BERLIN. Welche Polizeibehörde käme auf die Idee, ihre Einsatzfahrzeuge selbst mit hohem Aufwand entwickeln zu wollen und ihre Beamtinnen und Beamten bis zur Produktionsreife in vielen Jahren per Fahrrad auf Verbrecherjagd zu schicken – statt erprobte Autos bei versierten Herstellern zu kaufen und für den eigenen Bedarf anpassen zu lassen? In der Bildungspolitik geschieht Vergleichbares immer wieder (wie das Beispiel der landeseigenen Schulplattformen zeigt). Neuester Fall: Die Kultusministerkonferenz lässt nun in jahrelanger Arbeit ein Diagnosetool entwickeln, mit dem Grundschulen die Lernausgangslagen ihrer Schulanfänger ermitteln sollen. Dabei gibt es das längst.
Auf der Seite des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) sind derzeit mehrere Stellenausschreibungen zu finden. „Vorbehaltlich der Mittelbewilligung“ wird unter anderem „zum nächstmöglichen Zeitpunkt für das Drittmittelprojekt ‚Stark in die Grundschule starten‘ (StarS) eine*n Programmierer*in (m/w/d) mit jeweils 100% der durchschnittlichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit einer*eines Vollbeschäftigten, voraussichtlich befristet bis zum 31.12.2026, Entgeltgruppe 13 TV-L HU gemäß § 14 Abs. 1 TzBfG“, gesucht. „Eine Projektverlängerung wird angestrebt“, so heißt es ergänzend. Tatsächlich wird diese nötig sein, denn das Projekt, um das es hier geht, ist ein ambitioniertes.
„Dies ermöglicht eine individuell angepasste Förderung schon zu Beginn der Grundschulzeit“
Die Kultusministerkonferenz kündigte es in der vorvergangenen Woche bereits an. „StarS wird umfassende diagnostische Werkzeuge bereitstellen, um Lehrkräften an Grundschulen präzise Informationen über die Lernausgangslagen und die Lernentwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler zur Verfügung zu stellen. Dies ermöglicht eine individuell angepasste Förderung schon zu Beginn der Grundschulzeit“, so heißt es vollmundig in einer Pressemitteilung.
Und weiter: „Das Programm erweitert das Bildungsmonitoring und zielt darauf ab, ab der ersten Klasse, also am Übergang vom Elementar- zum Primarbereich sprachliche und mathematische Kompetenzniveaus systematisch zu sichern. Insbesondere angesichts der großen Bedeutung der frühen Bildung für den weiteren Bildungs- und Lebensweg markiert dieser Schritt einen bedeutenden Fortschritt in der Sicherung der Bildungsstandards und Bildungschancen vom Anfang der Schulzeit an sowie der Einheitlichkeit im Bildungswesen“, so heißt es in einer Pressemitteilung.
Die Entwicklungszeit wird mit drei Jahren veranschlagt; Kostenschätzung: rund sechs Millionen Euro. Bis 2031 soll das Programm dann in der Praxis getestet werden (was weitere Aufwände bedingt).
Seltsam nur: Ein solches Programm existiert bereits – und wird gerade in einem kommunalen Modellprojekt in der Fläche erprobt. Die Stadt Hagen nämlich hat ihre Bildungseinrichtungen mit Diagnostik-Software von LOGmedia, einem Unternehmen aus dem westfälischen Fröndenberg, ausgestattet. Damit soll der Entwicklungsstand – nicht nur der Sprachstand in Deutsch – von Kita-, Vor- und Grundschulkindern zuverlässig ermittelt werden (News4teachers berichtete).
Einer Pressemitteilung der Stadt zufolge können mittels LOGmedia-Verfahren Sprachstände, schulische Grundfähigkeiten und Entwicklungsverläufe objektiv erhoben und valide eingeordnet werden. „Empfehlungen von Fördermaßnahmen und/oder weiterführender Diagnostik werden anhand automatisierter Berichte transparent und nachvollziehbar gegenüber Eltern, verantwortlichen Stellen und Expert*innen dargestellt. Eine punktgenaue Förderung, die dem tatsächlichen Förderbedarf entspricht, kann sich anschließen. Der großflächige Einsatz erlaubt zudem ein Screening der Förderbedarfe über ganze Jahrgänge hinweg. Darüber hinaus können die so gewonnenen Daten unmittelbar als statistische Darstellung im kommunalen Bildungsmonitoring sichtbar gemacht werden“, so heißt es.
„Damit haben wir ein Alleinstellungsmerkmal – und können den Erfolg des Diagnosetests auch für fremdsprachige Kinder garantieren“
Mehr noch: Durch die Möglichkeit, das Sprachverständnis bei nichtdeutschen Kindern in 27 Herkunftssprachen ohne Dolmetscher festzustellen, könne mittels des Screenings erkannt werden, ob es sich bei einem festgestellten Problem um eines beim Erlernen der deutschen Sprache handelt – oder ob sich eine Sprachauffälligkeit bereits in der Muttersprache zeigt. „Damit haben wir ein Alleinstellungsmerkmal – und können den Erfolg des Diagnosetests auch für fremdsprachige Kinder garantieren. Dadurch wird Früherkennung zu einem auch integrationspolitisch wichtigen Instrument“, sagt Volker Sassenberg, Geschäftsführer von LOGmedia. Über 15 Jahre Entwicklungszeit seien in das Programm, das unter anderem von Kita-Trägern und Schulbehörden in der Schweiz eingesetzt wird, eingeflossen.
Dass die staatliche Neuentwicklung „StarS“ dies alles am Ende wird leisten können, darf getrost bezweifelt werden – nur drei Jahre veranschlagte Entwicklungszeit und die Tatsache, dass noch nicht mal genügend Programmierer an Bord sind (der Markt für IT-ler ist leergefegt), verheißen nichts Gutes. Dazu kommen die Erfahrungen mit den landeseigenen Schulplattformen: Logineo zum Beispiel, die digitale Arbeits-, Lern- und Kommunikationsplattform für Schulen in Nordrhein-Westfalen, ist nach knapp 15 Jahren Entwicklungszeit noch immer nicht vollständig ausgerollt – und bereits ein Sanierungsfall.
Wie viele Investitionen dafür nötig sind, bleibt aber völlig offen – es wird in einem eigens vom Schulministerium in Auftrag gegebenen Gutachten nicht mal ansatzweise geschätzt, wie viel Geld gebraucht wird, um die eklatanten Schwächen des Systems zu beseitigen. So werden auch keine Kosten dagegengehalten, die entstehen würden, wenn das Land eine kommerzielle, am Markt bewährte Plattform einkaufen und für die Bedürfnisse der Schulen im Land anpassen ließe. Die Kosten für Logineo sind immens – allein für 2023 waren Landesausgaben in Höhe von 22,5 Millionen Euro veranschlagt worden.
Es wäre nicht die erste staatliche Bildungsplattform, die zum Millionengrab wird: Die 630 Millionen Euro teure Nationale Bildungsplattform, die das Bundesbildungsministerium entwickeln lässt, wird vom Bundesrechnungshof bereits als „drohende Förderruine“ bezeichnet. News4teachers / mit Material der dpa