
Immer mehr Kinder werden in Nordrhein-Westfalen zurückgestellt und ein Jahr später als vorgesehen eingeschult. Das berichtet die «Rheinische Post» mit Verweis auf Daten aus dem Schulministerium des Landes. So sei die Zahl der zurückgestellten Kinder binnen vier Jahren stetig gestiegen – um 77 Prozent seit 2019/20.
Demnach wurden zum Schuljahr 2019/20 landesweit 3218 Zurückstellungen von der Einschulung bewilligt. Zum Schuljahr 2020/21 waren es 3564, ein Jahr später 4045. Zum Schuljahr 2022/23 waren es 4866 Zurückstellungen und zum Schuljahr 2023/24 wurden in Nordrhein-Westfalen 5695 Zurückstellungen bewilligt, wie die Zeitung berichtet.
«Wir merken allgemein in der Vorsorge, dass Kinder deutlich mehr Defizite in Feinmotorik, Grobmotorik und emotionaler Bildung haben»
Die Entscheidung über eine Zurückstellung liegt bei den Grundschulleitungen, die dabei die Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen berücksichtigen. Das NRW-Schulministerium hat keine sichere Erklärung für die Entwicklung. Allerdings könnten Eltern seit einigen Jahren fachärztliche und therapeutische Gutachten einbringen. «Es ist davon auszugehen, dass diese Regelung Wirkung entfaltet», sagte ein Ministeriumssprecher.
Der Landessprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte in NRW, Axel Gerschlauer, vermutet Folgen der Corona-Pandemie hinter dem Trend. «Wir merken allgemein in der Vorsorge, dass Kinder deutlich mehr Defizite in Feinmotorik, Grobmotorik und emotionaler Bildung haben.»
Gerschlauer sagte der Zeitung weiter: «Außerdem macht uns steigender Medienkonsum Sorge.» Je früher es Bildschirmzeiten gebe, desto schlechter sei dies für die kindliche Entwicklung. «Es beeinträchtigt die Konzentrationsfähigkeit, die Intelligenz, die Daten dazu sind eindeutig. Es ist eine Unart, dass Kinder schon im frühen Alter aufs Handy starren.»
In Sachsen-Anhalt hat sich der Anteil der später eingeschulten Kinder binnen zehn Jahren fast verdoppelt
Auch in Sachsen-Anhalt hat sich die Zahl der verspätet eingeschulten Jungen und Mädchen in den vergangenen Jahren erhöht. Im vorigen Schuljahr kamen dort 798 Kinder nach dem fristgemäßen Einschulungstermin in die Schule, wie aus Daten des Statistischen Landesamts hervorgeht, die das Bildungsministerium zur Verfügung stellte. Das waren vier Prozent der insgesamt rund 19.800 neuen Erstklässler. Zehn Jahre zuvor hatte der Anteil der verspätet eingeschulten Kinder noch bei 2,3 Prozent gelegen.
Ein Anstieg war unter anderem in den Corona-Jahren zu beobachten. Im Schuljahr 2019/20 kamen noch 516 Jungen und Mädchen mit 7 statt mit 6 Jahren in die Schule, was einem Anteil von 2,8 Prozent entsprach. Ein Jahr später war der Anteil auf 3,6 Prozent gestiegen. Im Schuljahr 2021/22 und 2022/23 waren es dann jeweils 4,3 Prozent.
Das Bildungsministerium erklärte, in begründeten Einzelfällen könne die Schulpflicht um ein Jahr verschoben werden. Die Verschiebung könnten die Sorgeberechtigten über die Grundschule beim Landesschulamt beantragen. Die Grundschule führe mit den Sorgeberechtigten ein Beratungsgespräch und erarbeite eine Stellungnahme. Welche Gründe vor allem ausschlaggebend sind für die verspäteten Einschulungen, teilte das Bildungsministerium nicht mit und verwies auf die Schuleingangsuntersuchungen.
Thekla Mayerhofer, Vorstandsvorsitzende des Grundschulverbandes Sachsen-Anhalt, sagte, die verspätet eingeschulten Kinder hätten oft schon «jede Menge Diagnostik» hinter sich. Das «Zurückstellen» von Kindern sei nicht mehr einfach möglich.
Flexible Schuleingangsphase für unterschiedliches Lerntempo
In Sachsen-Anhalt gibt es seit vielen Jahren die sogenannte flexible Schuleingangsphase, die die Kinder je nach Lerntempo in ein, zwei oder drei Jahren absolvieren können. Statt in schuljahresübergreifenden Klassen würden die Kinder aber zumeist im Klassenverband unterrichtet und hätten das Gefühl des Sitzenbleibens, wenn sie ein Jahr länger für die Schuleingangsphase bräuchten als die meisten anderen. Mayerhofer, die in Halle als Grundschullehrerin arbeitet, wies darauf hin, dass die Kinder in einer Klasse ohnehin altersmäßig bis zu einem Jahr auseinanderliegen. Da sei es logisch, dass nicht jedes Kind in der gleichen Geschwindigkeit lernen könne.
Mayerhofer hat eine Idee, wie sich das System der Einschulungen reformieren ließe, um den individuellen Bedürfnissen besser Rechnung tragen zu können: Die Schulpflicht könnte mit dem sechsten Geburtstag greifen, zum folgenden Monat würde jedes Kind in die Schule kommen – ein sukzessiver Schulanfang quasi. News4teachers / mit Material der dpa