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Fremdbestimmt, abgehängt, einsam – warum junge Menschen sich von der Demokratie ab- und der AfD zuwenden

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BERLIN. In deutschen Schulen herrscht zwar fomal Mitbestimmung. In der Praxis werden Schülerinnen und Schüler aber kaum einbezogen, wenn es um Entscheidungen geht, die ihr eigenes Lernen betreffen. Uli Black, ehemaliger Lehrer und Autor, kritisiert in seinem Gastbeitrag die starren Strukturen des Bildungssystems und fordert eine Schulkultur, die Demokratie nicht nur lehrt, sondern auch lebt. Er zeigt auf, wie mangelnde Mitbestimmung, Einsamkeit und Demokratieverdrossenheit gerade bei jungen Menschen zu einer zunehmenden Entfremdung von der Gesellschaft führen – mit fatalen Folgen.

Viele junge Menschen haben kein Vertrauen in die Demokratie, fühlen sich abgehängt und nicht beachtet. Illustration: Shutterstock

„Ruhe dahinten! Ich dulde keinen Widerspruch! Wir fangen nächste Woche an, Schillers Räuber zu lesen, ohne Wenn und Aber.“

„Aber können wir nicht mal etwas Modernes oder Spannendes lesen? Einen Fantasy-Roman oder einen Krimi?“

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„Fantasy? Das wäre ja noch schöner. Ihr seid hier nicht zu eurem Vergnügen, sondern wir müssen uns strikt an den Bildungsplan halten. Und da sind Goethe, Schiller, Brecht und Kafka in Stein gemeißelt.“

„Das verstehen wir ja, aber wir brauchen einfach mal eine Pause von den alten Schinken, die schon unsere Großeltern zu deren Schulzeiten lesen mussten.“

„Dazu fehlt uns die Zeit. Wenn euch das hier zu anstrengend ist, hättet ihr in die Hauptschule gehen müssen, da lesen sie Pippi Langstrumpf.“

„Könnten wir nicht in der Klasse abstimmen, wer dafür ist, mal etwas anderes zu lesen?“

„Abstimmen? Super Idee. Dann stimmen wir ab. Die Stimme der Klasse zählt einfach und meine doppelt. Da wird in jedem Fall Schiller gewinnen.“

„Das ist total unfair.“

„Nein, das ist gelebte Demokratie. Willkommen im deutschen Schulsystem. Und wer jetzt noch weiter meinen Unterricht stört, fliegt raus! Ende der Diskussion!“

Szenen wie diese spielen sich seit ewigen Zeiten mehr oder weniger täglich in deutschen Klassenzimmern ab. Schüler würden sich gerne mal mit etwas im Unterricht beschäftigen, das ihrem Zeitgeist und ihren Interessen entspricht, aber mit Verweis auf den Bildungsplan wird dieser legitime Wunsch weggebügelt. Ihre Meinung zählt nicht. Nicht mehr zeitgemäße und überfrachtete Lehrpläne und die verkrustete Hierarchie in der Schule lassen scheinbar nur einen Weg zu: der Lehrer entscheidet und die Schüler haben zu folgen. Demokratische Werte wie Mitbestimmung, Entscheidungsfreiheit, Respekt und Toleranz finden im Unterrichtsalltag selten Anwendung.

„Demokratische Schulkultur“ ist ein wohlklingender Begriff, der gerne von den für Bildung Verantwortlichen bedient wird. So wie in dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06.03.2009, wo es heißt: „Mit dem Begriff der demokratischen Schulkultur ist der Anspruch verbunden, dass das gesamte Schulleben von Werten des Respekts und der Toleranz geprägt sein muss und dass in der Schule über den Unterricht hinausgehend Möglichkeiten geschaffen werden, in denen Zivilcourage gestärkt und demokratische Regeln und Verfahren sowie gewaltfreie Methoden der Konfliktlösung eingeübt werden können.“

“Schule muss ein Ort sein, an dem demokratische und menschenrechtliche Werte und Normen gelebt, vorgelebt und gelernt werden”

Schöne Worte. Die Praxis zeigt jedoch, dass man gerade in der Schule vieles erleben muss, was sich zur demokratischen Bildung kontra­produktiv verhält: Repression, Ausgrenzung, Intransparenz, unkontrollierte und asymmetrische Macht, Mobbing, Demütigung und soziale Vereinsamung.  Hierbei spielen auch die Lehrer eine Rolle. Keine Frage, Bildungspläne und didaktische Leitfäden sind notwendige Richtlinien, um den Pädagogen etwas an die Hand zu geben, nach dem sie ihren Unterricht inhaltlich gestalten können. Was in der Tat fehlt, sind größere Freiräume und Bereiche, wo man den Schülern die Möglichkeit der Mitgestaltung und Mitentscheidung gibt, denn Schule kommt als demokratischer Erfahrungsraum eine hohe Verantwortung zu.

Sie muss ein Ort sein, an dem demokratische und menschenrechtliche Werte und Normen gelebt, vorgelebt und gelernt werden. Kontroverse Diskussionen, auch hitzige Debatten, die Möglichkeit, seine eigene Meinung zu einem Thema zu äußern, zu überzeugen und sich überzeugen zu lassen, sind wichtige Bausteine der Demokratiebildung. Wo sollen junge Menschen dies lernen, wenn nicht in der Schule? Die Fridays-for-Future-Bewegung, wo junge Menschen von ihrem im Grundgesetz verankerten Versammlungs- und Demonstrationsrecht Gebrauch machen, um Freitag morgens für den Klimaschutz zu streiken, ist ein Paradebeispiel dafür, wie an der Schule Grundrechte von Schülern missachtet werden.

An sehr vielen Schulen werden die Schüler, die an den Demonstrationen teilnehmen, gemaßregelt oder unter Strafandrohung massiv unter Druck gesetzt, dies zu unterlassen. Die Kritik richtet sich hierbei weniger gegen die Sache an sich als den Zeitpunkt der Versammlungen, nämlich an Freitagvormittagen während des Unterrichts. Häufig hört man seitens der Schulleitungen den absurden Vorwurf, es ginge den Beteiligten vor allem um den Unterrichtsausfall. Dass gerade dies den Effekt öffentlicher Aufmerksamkeit verstärkt und im Sinne der Begründerin der Bewegung, Greta Thunberg, ist, wird einfach ignoriert. Die Wirkung eines jeden Arbeitsstreiks würde verpuffen, wenn er außerhalb der Arbeitszeit stattfände. Das Problem ist, dass Schule tatsächlich eine in vielerlei Hinsicht undemokratische Einrichtung ist.

Obwohl sie ausschließlich für Schüler da sein sollte und sich nach deren Interessen, Neigungen, Wünschen, Fähigkeiten richten sollte, werden diese in den seltensten Fällen in Entscheidungsprozesse miteinbezogen. Schüler haben kein Mitspracherecht bei der Erstellung der Bildungspläne, sie haben keinen Einfluss auf Stundenpläne und Lehrerzuteilungen, sowohl Inhalt als auch Zeitpunkt und Erwartungshorizont von Klausuren werden ihnen vorgeschrieben. Beim unter vielen Lehrern nach wie vor beliebten Abfragen an der Tafel werden Schüler oft vorgeführt und gedemütigt, sie können vom Lehrer jederzeit aus dem Unterricht entfernt oder in anderer Form disziplinarisch gemaßregelt werden. Selbst in einem künstlerischen und kreativen Fach wie Bildender Kunst gibt es Erwartungshorizonte und der Lehrer alleine entscheidet, was gut und was schlecht ist.

Sieht so das im Grundgesetz verankerte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Mitbestimmung und Meinungsfreiheit aus? Dieser Mangel an „gelebter Demokratie“ an Schulen ist ein wesentlicher Grund für die zunehmende Demokratieverdrossenheit junger Menschen.

Jugendliche haben keine Lobby. Das zeigte sich besonders deutlich während der Pandemie, als sie die letzten in der Reihe waren, die geimpft wurden. Man schloss für lange Zeit die Schulen und überließ die Schüler mehr oder weniger ihrem Schicksal. Sie fühlen sich fremdbestimmt und nicht ernst genommen. Aber nicht nur im schulischen, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext. Bei einer Umfrage der Vodafone-Stiftung unter über 2.000 jungen Menschen zwischen 14 und 24 Jahren Ende 2021 stellte sich heraus, dass Dreiviertel der Befragten unzufrieden damit sind, wie ihre Interessen von der Politik vertreten werden. 86 Prozent gaben an, dass sie sich um die Zukunft sorgen.

“Viele junge Menschen haben kein Vertrauen in die Demokratie, fühlen sich abgehängt und nicht beachtet”

Diese Zahlen decken sich in etwa mit den Ergebnissen des im November 2024 veröffentlichten Deutschen Schulbarometers, demzufolge 71 Prozent der befragten Jugendlichen Angst vor Krieg haben (News4teachers berichtete). Der Leistungsdruck in der Schule, die globale Klimakrise und die Ängste vor der eigenen Zukunft bereiten ihnen die meisten Sorgen. Viele junge Menschen haben kein Vertrauen in die Demokratie, fühlen sich abgehängt und nicht beachtet. Besonders die Unzufriedenheit mit politischen Institutionen und der Eindruck, dass ihre Stimmen wenig Einfluss haben, sind unter Jugendlichen verbreitet. Häufig wird das Gefühl geäußert, dass politische Entscheidungen nicht ausreichend die Bedürfnisse der jungen Generation widerspiegeln.

So lässt sich teilweise erklären, warum gerade nichtdemokratische Parteien wie die AfD einen verhältnismäßig großen Zuspruch seitens junger Wähler finden. Sie vermitteln, vorrangig über soziale Medien wie X oder TikTok, Jugendlichen den trügerischen Eindruck, sich für sie zu interessieren und sich für ihre Interessen einzusetzen. Das Narrativ, das die AfD bedient, ist direkt und simpel. Es geht nicht um abstrakte Begriffe wie Schuldenbremse, Klimawandel, Inklusion, Energieeffizienz, Binnenmarkt, Leitkultur, sondern um Freundschaft, Liebe, Natur, Essen, Sport. Die einfache Botschaft „Wir kümmern uns um dich!“ verfehlt bei den jungen Menschen nicht ihre Wirkung, denn genau das ist es, was ihnen die etablierten Parteien nicht anbieten.

Das alleine genügt jedoch nicht, die Demokratieverdrossenheit junger Wähler zu erklären. Neuere Studien weisen auf einen weiteren Anhaltspunkt für dieses Phänomen hin: junge Menschen fühlen sich zunehmend einsam. Seit 2020 zeigen Befragungen deutlich, dass Einsamkeit, also das subjektive Gefühl, zu wenig Kontakte zu haben und keine Nähe zu anderen Menschen zu spüren, bei jungen Menschen stärker verbreitet ist als bei allen anderen Generationen.

Aus dem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2024 veröffentlichten Einsamkeitsbarometer geht hervor, dass sich 55 Prozent der 16- bis 23-Jährigen oft oder immer allein fühlen. Somit fühlen sich vier bis fünf Millionen junger Menschen akut oder chronisch einsam, eine gleichermaßen erschreckende wie dramatische Zahl.  Daraus können eine Vielzahl von negativen Folgen für die körperliche und geistige Gesundheit entstehen wie soziale Isolation, Depression und Angstzustände, eine Schwächung des Immunsystems und somit eine höhere Anfälligkeit von physischen Erkrankungen jeglicher Art. Sie geraten in einen Teufelskreis und werden von der Gesellschaft an den Rand gedrängt, was ihre Einsamkeit noch verstärkt.

“Im Hinblick auf die nahende Bundestagswahl im Februar 2025 kommen Angebote wie der kürzlich beschlossene Digitalpakt zu spät”

Das Gefühl, einsam zu sein und nicht beachtet zu werden, wirkt sich wiederum unmittelbar auf das Demokratieverständnis der Betroffenen aus. „Junge Menschen können Gesellschaft eigentlich gar nicht mehr definieren. Sie haben kein Bild mehr davon, wie Gesellschaft aussieht. Das führt dazu, dass sie sich nicht mehr von der Politik repräsentiert fühlen und sich weniger mit unserer Demokratie identifizieren können. Denn: Der Gesellschaft, die die Politik repräsentieren soll, fühlen sie sich nicht zugehörig“, wie es Melanie Weiser, Junior Projektmanagerin im Schwerpunktbereich „Resiliente Demokratie“ vom Progressiven Zentrum in Berlin, ausdrückt.

Im Rahmen eines Projektes führte sie 2024 zusammen mit weiteren Wissenschaftlerinnen eine Befragung von mehr als 1000 Jugendlichen im Alter von 16 bis 23 Jahren durch. Sie kommen zu dem Schluss, dass einsame junge Menschen eher zu antidemokratischen Einstellungen neigen und fordern Pädagogen wie Politiker auf, jungen Menschen zu zeigen, dass wir sie als Teil dieser Gesellschaft und dieser Demokratie haben wollen und uns für sie interessieren. Wenn dies nicht gelingt, verlieren wir sie zunehmend für die Demokratie und das kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten. Im Hinblick auf die nahende Bundestagswahl im Februar 2025 kommen Angebote wie der kürzlich beschlossene Digitalpakt jedoch zu spät und es steht zu befürchten, dass sich das an dem Wahlergebnis der AfD ablesen lassen wird.

Zum Autoren: Uli Black unterrichtete bis zu seiner Pensionierung Englisch, Sport und Psychologie am Gymnasium und war 20 Jahre lang als Ausbildungslehrer tätig. 2024 wurde sein Buch „Kafka kannste knicken. Bildung war gestern – heute ist TikTok“ veröffentlicht. Zudem unterhält er einen Ratgeber-Blog für angehende Pädagogen und gestresste Lehrerinnen auf Youtube. Link: Uli Black – YouTube

Wie demokratisch sind Schulen? Nicht so sehr! Warum Schüler mehr Mitbestimmungsrechte brauchen – eine Podcast-Debatte

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