STUTTGART. Lehrkräfte müssen einer Umfrage zufolge an vielen Schulen mit Bedrohungen, Beleidigungen, Mobbing und sogar körperliche Angriffen umgehen. Die Schulleitungen bundesweit nehmen einen Anstieg wahr, wie eine repräsentative Umfrage im Auftrag des VBE ergibt.
Eine Lehrerin, die von einem Drittklässler gegen Rücken und Brust geschlagen wird oder ein Kollege, dem ein Vater auf dem Pausenhof in den Rücken springt – die Beispiele, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) gesammelt hat, sind drastisch. Immer wieder sind Lehrerinnen und Lehrer Opfer von körperlicher Gewalt. Aber auch Beleidigungen, Mobbing und Hasskommentare im Internet sind an der Tagesordnung. Das sind Ergebnisse einer vom VBE beim Institut forsa beauftragten Umfrage unter Schulleitungen in Deutschland.
„Gewalttaten gegen Lehrkräfte sind keine Einzelfälle“, sagt Gerhard Brand, baden-württembergischer Landes- und Bundeschef des VBE. Der Umfrage zufolge nehmen viele Schulleiterinnen und Schulleiter einen Anstieg der Fälle wahr. Demnach gaben 60 Prozent der Befragten an, dass körperliche und psychische Gewalt an ihrer Schule in den vergangenen fünf Jahren eher zugenommen habe. Einen Rückgang der Gewalt registrierten hingegen nur vier Prozent der Befragten.
„Wir hatten eigentlich gedacht, dass wir die Politik mit unseren Daten wachgerüttelt haben. Das ist nicht geschehen“
„Das soziale Klima ist in den letzten Jahren spürbar rauer geworden, das spiegelt sich auch an den Schulen wider“, sagt Brand. Die Daten bestätigten, was viele Lehrkräfte und Schulleitungen immer wieder äußerten: Das soziale Miteinander breche auf, die Empathiefähigkeit bei Kindern und Eltern habe nachgelassen, Konflikte eskalierten häufiger und schneller. „Wir beobachten, dass der Respekt gegenüber schulischen Autoritäten abnimmt und es regelmäßig zu Grenzüberschreitungen kommt“, sagte der Gewerkschaftschef.
Viele Schulleitungen berichteten in der Umfrage von Fällen, bei denen Lehrkräfte beschimpft, bedroht, beleidigt, gemobbt oder belästigt wurden. Knapp zwei Drittel aller Befragten (65 Prozent) kann sich an einen entsprechenden Fall in den vergangenen fünf Jahren erinnern.
An mehr als jeder dritten Schule wurden Lehrkräfte über das Internet bedroht (36 Prozent) oder auch körperlich angegriffen (35 Prozent). Das sind ähnliche Werte wie bei einer Befragung im Jahr 2022. 2018 lagen die Werte deutlich niedriger. Kritik übte Brand an der Reaktion der Politik auf die gestiegenen Zahlen. „Wir hatten eigentlich gedacht, dass wir die Politik mit unseren Daten wachgerüttelt haben. Das ist nicht geschehen“, sagt der VBE-Vorsitzende.
„Wenn 18 Prozent der Schulleitungen sehen, dass die Meldung von Vorfällen seitens der Schulbehörden nicht gewünscht ist, hinterlässt uns das fassungslos“
Man habe von der Politik Versprechungen gehört, dass das Thema ernst genommen und Chefsache werde. „Wenn die Politik es wirklich so behandelt hat, dann hat sie auf ganzer Strecke versagt“, kritisiert Brand. Die Kultusministerien müssten Vorfälle überhaupt erst einmal erfassen. Zudem müssten betroffene Lehrkräfte durch ihren Dienstherrn besser unterstützt werden.
Weitere Ergebnisse:
- An Haupt-, Real- und Gesamtschulen (74 Prozent) sowie Förder- und Sonderschulen (68 Prozent) kommt es in besonderem Maße zu Fällen psychischer Gewalt. Auch körperliche Angriffe auf Lehrkräfte treten vermehrt, fast doppelt so oft wie im Durchschnitt, in Förder- und Sonderschulen auf (66 Prozent).
- In den meisten Fällen wurden Schülerinnen und Schüler und deren Eltern zu Tätern gegenüber Lehrkräften. So gingen beispielsweise physische Übergriffe in 97 Prozent der Fälle von Schülerinnen und Schülern aus, welche auch im Falle von Cybermobbing in 72 Prozent der Fälle am häufigsten von den Schulleitungen als Täter genannt wurden. Im Falle psychischer Gewalt in direkter Begegnung nannten die Schulleitungen Eltern (79 Prozent) als häufigste Tätergruppe.
- Zudem kam es innerhalb der letzten fünf Jahre an elf Prozent der Schulen dazu, dass Erwachsene ohne jegliche Verbindung zur Schule zu Tätern gegenüber Lehrkräften werden. Dieses Phänomen sei erstmals zutage getreten, als es im Zusammenhang mit der Umsetzung der coronabedingten Hygienemaßnahmen dazu kam, dass schulfremde Menschen Lehrkräfte stellvertretend für die Politik verantwortlich für die damalige Situation machten. Damals wurden bis zu einem Viertel der Gewaltvorfälle von Menschen ohne Bezug zur Schule ausgeübt.
Brand kommentiert: „Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen ohne Bezug zur Schule Lehrkräfte als Projektionsfläche für ihre politische Unzufriedenheit auserkoren haben und ihre Frustration und ihren Hass an unseren Kolleginnen und Kollegen ausleben. Die Schülerinnen und Schüler – insbesondere an den Grundschulen – befinden sich noch in der Entwicklung, was ihre emotionalen und sozialen Kompetenzen angeht. Entscheidet sich aber ein erwachsener Mensch ohne Bezug zur Schule, Gewalt gegen Lehrkräfte auszuüben, kann und darf es keine Entschuldigungen geben. Der Dienstherr muss dieser Entwicklung endlich Einhalt gebieten.“
- Nur gut die Hälfte der Schulleitungen ist der Meinung, betroffene Lehrkräfte ausreichend unterstützen zu können. Meist scheitert es an uneinsichtigen Täterinnen und Tätern (74 Prozent) und kooperationsunwilligen Eltern (71 Prozent). Allerdings werden auch die zu hohe Aufgabenfülle (58 Prozent), bürokratische und aufwändige Strukturen bei der Meldung von Gewaltfällen (49 Prozent) und unzureichende Unterstützung durch den Dienstherrn genannt (35 Prozent Ministerium, 27 Prozent Schulverwaltung). Wie schon 2022 berichtet fast ein Fünftel der Schulleitungen, dass die Meldung von Gewaltvorfällen seitens der Schulbehörde nicht gewünscht sei.
Brand dazu: „Ob Täterinnen und Täter Einsicht zeigen, ist eine individuelle Frage, die wir nur wenig beeinflussen können. Wenn allerdings 18 Prozent der Schulleitungen sehen, dass die Meldung von Vorfällen seitens der Schulbehörden nicht gewünscht ist, hinterlässt uns das fassungslos. Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn endet nicht, wenn es unangenehm wird. Vielmehr ist sie besonders bedeutsam, wenn Lehrkräfte Opfer von Gewalt werden. Anstatt Meldungen kritisch gegenüberzustehen, sollte der Dienstherr niedrigschwellige Meldungen und eine umfassende psychologische und juristische Unterstützung ermöglichen.“
- Auch im Bereich der Prävention sehen Schulleitungen Hürden. Insbesondere der allgegenwärtige Personalmangel verhindert vielerorts gelingende Präventionsarbeit. Dies meldeten vier von fünf Befragten. Fast ebenso oft wünschen sich Schulleitungen eine engere Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen (77 Prozent) und die Unterstützung durch multiprofessionelle Teams (75 Prozent). Ebenso wünschen sich mehr als zwei Drittel der Schulleitungen mehr Angebote zur Fort- und Weiterbildung.
- Erstmalig wurde in diesem Jahr abgefragt, ob Schulen mit einem zweiten Alarmsignal ausgestattet sind, um Schülerschaft und Lehrkräfte – beispielsweise im Fall eines Amoklaufs – dazu aufzufordern, im Unterrichtsraum zu verbleiben und sich zu verbarrikadieren. Dies konnten lediglich gut die Hälfte der Schulleitungen bejahen. An 43 Prozent der Schulen gibt es diese zusätzliche Sicherheitsvorkehrung nicht.
Hierzu Brand: „Die Kommunen müssen an dieser Stelle stärker in die Pflicht genommen werden. An dem Schutz und der Sicherheit aller an Schule Beteiligten darf kein Preisschild hängen. Hier muss die Politik nachbessern und im Zweifelsfall finanziell klammen Kommunen unter die Arme greifen.“
Für die Umfrage unter den Lehrkräften hatte das Meinungsforschungsinstitut Forsa zwischen Mitte September und Mitte Oktober vergangenen Jahres gut 1.300 Schulleitungen bundesweit befragt, darunter auch etwa 250 in Baden-Württemberg. Die Ergebnisse sind laut Forsa mit einer Fehlertoleranz von drei Prozentpunkten repräsentativ. News4teachers / mit Material der dpa