MÜNCHEN. Frauen, die früher als „Rabenmütter“ tituliert worden wären, erfüllen heute die gesellschaftliche Norm. Nach einem Jahr zu Hause zurück in den Beruf, die Kinder nach U3-Betreuung und Kita-Zeit in der Schule ganztägig betreut, dass ist für junge Familien heutzutage schon zum Standardmodell geworden. Bleibt ein Elternteil länger zu Hause gilt das Vielen schon als sonderbar. Besonders die Mütter sehen sich dann in eine konservative Ecke gedrängt. Sind Frauen damit von einer Wahlfreiheit in ihrem Lebensentwurf heute ähnlich weit entfernt wie andere Generationen vor ihnen, sind die Auswirkungen auf die Kinder unter Experten immer noch umstritten.
Paul macht ein Vormittagsnickerchen, seine Mutter ist gleich nebenan. Dabei ist der 2015 geborene Sohn im besten Krippenalter. Klara Pfeifer aus München, 35, studierte Historikerin, scheint damit gegen den Trend zu sein. Während Altersgenossinnen ihre Kinder oft mit zwölf Monaten in die Kita geben, ist Paul Pfeifers zweites Kind, das die ersten Jahre nur von den Eltern betreut wird. Theresa ist vier und geht inzwischen halbtags in den Kindergarten.
Es ist ein Lebensmodell, das in Deutschland seltener wird – in Bayern aber von der Politik gefördert ist. Im Juni 2016 führte der Landtag das Betreuungsgeld ein, nachdem das Bundesverfassungsgericht Zahlungen durch den Bund gekippt hatte. Pro Kind und Monat werden 150 Euro gezahlt. Bis Ende Januar wurden 121 000 Bescheide bewilligt, wie eine Sprecherin des bayerischen Familienministeriums sagt.
Für Pfeifers war die finanzielle Unterstützung nicht ausschlaggebend. Aber dank der «Herdprämie», wie Mutter Klara selbst schmunzelnd sagt, kann die Familie weiter in den Urlaub fahren. Wie schafft man es in einer teuren Stadt wie München mit dem Ein-Verdiener-Modell? Das frage auch ihre Schwester, sagt Pfeifer. «Wir haben geringe Grundkosten, kein Auto» – und der Urlaub gehe eben nicht mehr nach Thailand, sondern nach Kroatien. «Wir haben unsere Kinder relativ spät bekommen, sind bereits viel gereist und möchten jetzt die Zeit als Familie mit den Kindern verbringen, solange sie klein sind.»
Wozu hast du eigentlich studiert – das habe ihr Umfeld schon gefragt, gibt Pfeifer zu. Anfeindungen kenne sie nicht, die Titulierung als «Nur-Hausfrau» schon. «Man wird in eine konservative Ecke gedrängt», bestätigt ihr Mann Johannes, der ein halbes Jahr zu Hause bei den Kindern blieb. «Die Leute werden kategorisiert, ein Modell wird verfolgt, auch von der Politik, und das ist dann das Vorzeigemodell.» Seine Frau ergänzt: «Das gesellschaftliche Bild ist da, dass die emanzipierte Frau Kinder und Karriere unter einen Hut bringen sollte. Bleibt sie zu Hause, verfällt sie in das Klischee der 50er Jahre.»
Daheim bleiben oder das Kind in eine Krippe geben – darüber tobt eine Debatte, die Rabenmütter geißelt und Glucken verurteilt. Manche Eltern haben aus finanziellen Gründen keine Wahl. Viele loben frühkindliche Bildung und soziale Kontakte in der Kita. Kritiker des Betreuungsgeldes führen an, dass bildungsferne Familien oder solche mit Migrationshintergrund Kinder etwa zur Sprachförderung möglichst früh in Kitas bringen sollten. Machen diejenigen etwas falsch, die ihr Kind über das erste Lebensjahr hinaus zu Hause betreuen?
Nein, sagt Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert aus Wien. Eine Studie mit so einem Ergebnis sei ihr nicht bekannt. Eine allgemeine Empfehlung, in welchem Alter und unter welchen Voraussetzungen ein Kind für den Kitabesuch geeignet ist, gebe es nicht. Eine Fremdbetreuung bereits bei Einjährigen sei aber «denkbar ungünstig», sagt Ahnert. Generell wirke eine größere Reife bei etwas älteren Kindern dem Stress bei einer Trennung von den Eltern entgegen.
«Eltern, die ihre Kinder in den ersten drei Jahren ganz zu Hause betreuen und anschließend einen Halbtagsbesuch für Kindergarten bzw. Schule in Anspruch nehmen, machen nichts falsch, sondern vieles sehr richtig», findet auch Kinderarzt Rainer Böhm, Leitender Arzt am Sozialpädiatrischen Zentrum Bielefeld. Eine Ganztagsbetreuung in Krippe oder Kindergarten hält er grundsätzlich für nicht empfehlenswert. «Kleinkinder haben dann weder ausreichenden Kontakt zu ihren Eltern als wichtigsten, sogenannten primären Bindungspersonen, noch haben sie genügend Ruhe- und Erholungsphasen.»
Sowohl Familie als auch Bildungssystem seien wichtig, «aber in angemessener Form», findet der Mediziner. Eine zu frühe und zu umfangreiche Betreuung in einer Gruppe führe zu mehr Verhaltensauffälligkeiten, etwa zu Hyperaktivität, aber auch zu Ängstlichkeit. Gestresste Kinder könnten zudem unter Infekthäufung, Kopfschmerzen oder Neurodermitis leiden.
Ahnert sieht die Diskussion um Kinderbetreuung als «hochgradig ideologisiert und emotional überfrachtet» an. Böhm führt die hohe Nachfrage nach Betreuungsplätzen für Kleinkinder auch zurück auf «massive Lobbyarbeit der Wirtschaftsverbände, die in Anbetracht der demografischen Entwicklung ihren Arbeitskräftebedarf gedeckt sehen wollen». Auch den Feminismus sieht der Arzt in der Verantwortung. Väter sollten mehr in Erziehungsaufgaben eingebunden werden.
Ob eine Zuhause-Betreuung für das Kind schädlich sein kann, «kommt immer darauf an, wie anregend das Elternhaus ist», sagt Ursula Lay, Vorsitzende der Katholischen Erziehergemeinschaft Bayern. In einem anregenden Elternhaus könne das Kind auch erst später in die Kita gegeben werden. Wer aber den Nachwuchs nur vor den Fernseher setze, dessen Kind sei besser in der Kita aufgehoben. (Martina Scheffler, dpa)
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