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Gastbeitrag: Was vielen Kindern zusehends fehlt, ist ein klarer erzieherischer Rahmen – und das bekommt die Schule zu spüren

BERLIN. Lehrer sehen die Zusammenarbeit mit den Eltern als zunehmend schwierig an. Wie eine Umfrage unlängst ergab, gehört die Kommunikation mit Vätern und Müttern mittlerweile zu den größten Herausforderungen im Lehrerberuf (News4teachers berichtet). Kein Wunder: Die Erwartungshaltung gegenüber der Schule ist auf Elternseite immens. Gleichzeitig aber sinkt die Bereitschaft, dem eigenen Nachwuchs Grenzen zu setzen. Und das hat Folgen, wie Bernd Saur, Ehrenvorsitzender des Philologenverbands Baden-Württemberg, und  Katja Kranich, Schulleiterin des Stromberg-Gymnasiums in Vaihingen/Enz, in ihrem gemeinsamen Gastbeitrag für News4teachers feststellen. 

Verwöhnung schafft Probleme – auch (und vor allem) in der Schule. Foto: Shutterstock

Es geht nicht „mehr“

Die entgrenzte Gesellschaft: Wenn die Gesellschaft kein spürbares Gegenüber mehr ist für unsere Kinder, kann es Schule alleine auch nicht richten

von Katja Kranich und Bernd Saur

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Warum halten zunehmend mehr Kinder keine ganze Schulwoche mehr durch? Warum entschuldigen Eltern über einen zu langen Zeitraum das medizinisch nicht begründbare Fehlen ihrer Kinder? Und warum stellen Ärzte wiederum Woche für Woche Atteste aus, damit Eltern der schulischerseits auferlegten Attestpflicht nachkommen als Konsequenz übermäßigen Fehlens mit ungeklärter Ursache? Warum ist es überhaupt so schwierig geworden, Kinder im Klassenverband zu unterrichten?

In diesem Schuljahr sind Grundschulen bis hin zu den weiterführenden Schulen mit auffallend gestiegenen Zahlen von schulischem Absentismus konfrontiert. Das heißt, dass Kinder eine stark überdurchschnittliche Zahl an Fehltagen aufbauen, ohne dass es dafür einen wirklich triftigen Grund gäbe.

Heterogenität heißt auch: Immer mehr Schüler sind nicht lernbereit

Offenbar ist die Passung zwischen dem, was in der Schule gefordert wird, und dem, was Schüler von zu Hause mitbringen, zunehmend weniger gegeben. Lehrer führen zahlreiche Elterngespräche, bei denen seitens der Erziehungsberechtigten für die spezielle häusliche und familiäre Situation um Verständnis oder um Rat gebeten wird. Lehrer führen zunehmend Gespräche mit Therapeuten und Klinikschulen, die die individuellen Voraussetzungen darlegen, unter denen ein Kind während einer Therapie oder nach einem Klinikaufenthalt beschulbar ist. Eltern „befreien“ ihre Kinder selbstverständlich vom Unterricht für private Termine. Konkret heißt dies, dass die Bandbreite des „Normalen“ schmäler geworden ist und die Zahl individuell verschiedener Lernvoraussetzungen größer geworden ist.

Wenn von zunehmender Heterogenität im Klassenzimmer die Rede ist, dann ist damit längst nicht nur gemeint, dass Kinder mit Werkrealschulempfehlung in Realschulen oder Gymnasien sitzen, sondern dass Kinder mit zunehmend psychischen Problemen im Klassenzimmer sitzen und eben aus unterschiedlichsten Gründen nicht lernbereit, also beschulbar sind.

Dies ist insofern höchst problematisch, weil Lehrer primär Profis fürs Lernen sind und einen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu erfüllen haben. Lehrer sind Pädagogen, aber eben keine Psychologen oder gar Psychotherapeuten. An vielen Schulen wird Individualisierung nicht nur auf Lernwege bezogen. Vielmehr erheben die Eltern den Anspruch, dass für jedwede individuelle Befindlichkeit Verständnis aufgebracht wird und jede dieser Befindlichkeiten im Klassenzimmer – bei bis zu 30 Schülerinnen und Schülern versteht sich – gefälligst berücksichtigt werden muss. Doch was passiert da gesellschaftlich eigentlich gerade?

Die Fokussierung auf das eigene familiäre oder persönliche Bündel diverser Bedürfnisse und deren unmittelbare Befriedigung ist kein auf die Schule beschränktes Phänomen. Jüngst haben die Klinikärzte von Notfallpraxen am Wochenende Alarm geschlagen, weil die Wartezimmer am Samstagabend und sonntags voll sind von eben Nicht-Notfällen, die wiederum jedoch für sich den Anspruch erheben, bei jedem Halskratzen sofort behandelt zu werden. Hier müssen diese Fälle einfach warten. Wie gehen wir jedoch in der Schule mit Kindern um, die nur noch eingeschränkt aufnahmefähig sind?

Die eigentliche Aufgabe des Lehrers – zu unterrichten – rückt in den Hintergrund

Die Kernaufgabe eines jeden Lehrers, einfach guten Unterricht zu machen, ist mit den gestiegenen Anforderungen hinsichtlich Motivation, Differenzierung und Individualisierung der Lernwege, Bezug zur Lebenswelt usw. an sich schon Herausforderung genug. Was Kinder an mangelnder Arbeitshaltung bzw. Anstrengungsbereitschaft, Frustration, medialer Reizüberflutung oder Überforderung von zu Hause mitbringen, kann in der Schule nicht einfach so ‚en passant‘ aufgefangen werden.

Was vielen Kindern zusehends fehlt, ist ein klarer erzieherischer Rahmen, der ihnen Zuordnung und Orientierung ermöglicht, der ihnen die Grenze zwischen Kindern und Erwachsenen aufzeigt, ihnen ein bedingungsloses Aufgehoben-Sein anstatt eines Funktionieren-Müssens bietet, einen Rahmen, der ihnen ihren Platz in der Gesellschaft aufzeigt.

Vor uns sitzt jedoch eine heranwachsende Generation zunehmend „entgrenzter“ Kinder, die von ihren Eltern heiß geliebt und zugleich bedingungslos geschont werden. Diese Schonhaltung beginnt beispielhaft mit Bollerwagen light, in denen lauffähige Kinder samt Picknickbox für die unmittelbare Befriedigung von Durst und Hungergefühl durch die Welt geschoben und gezogen werden, anstatt dass ihnen zugemutet wird, dass sie Schritt für Schritt ihren Lebensweg selbst erkunden. Es geht weiter mit Eltern, die die Hausordnung von Jugendherbergen lesen wollen, bevor sie entscheiden, ob ihr Kind an einem Schullandheim teilnimmt bis hin zur elterlichen Einschätzung, dass die innerschulische Konfliktlösung ohne eine genaue Absprache mit den Eltern im Vorfeld als schwerer Übergriff auf das Kind, respektive auf sich selbst als Mutter oder Vater gewertet wird.

Schule darf nicht belastend sein

Gleichzeitig wollen viele Eltern Partner ihrer Kinder sein, die selbst entscheiden dürfen, auf welche Schule sie gehen und selbstverständlich keine schulischen Maßnahmen akzeptieren müssen, die anstrengend oder gar belastend sein könnten. Die fortschreitende und offensichtlich allseits reklamierte Individualisierung unserer Gesellschaft steht im Widerspruch zu Systemen, die weitestgehend auf einem gesellschaftlichen Konsens an Regeln und Konventionen beruhen. Die Schule ist ein solches System. Und solange sich an Schule nicht grundlegend etwas ändert bezogen auf ihren Erziehungs- und Bildungsauftrag, bleibt Schule auch ein solches System.

Als System, das auf einem gesellschaftlichen Konsens an Werten, Normen und Regeln aufbaut, braucht die Schule aber als Nährboden ihres Wirkens eine Gesellschaft, die hinschaut, die interveniert, die überschrittene Grenzen im sozialen Miteinander laut artikuliert. Wenn für unsere Heranwachsenden dieses spürbare Gegenüber zusehends wegbricht, dann kann es Schule alleine auch nicht mehr richten. Dann gilt beides: Es geht nicht „mehr“ und „mehr“ geht nicht!

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Der Verein “Eine Schule für alle – in Bayern” schreibt auf der Facebook-Seite von News4teachers:

Bildung kann es ohne Disziplin, Anstrengung und Fleiß nicht geben – doch wenn Schüler scheitern, ist der Lehrer schuld

 

 

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