Liebes Schulsystem, nun haben wir schon so viele Jahre Zeit zusammen verbracht, und immer noch habe ich so viele Fragen an Dich. Willst Du versuchen, Dir meine Fragen anzuhören?
Ich frage mich zum Beispiel, warum Du so viele Begriffe nicht nach ihrer eigentlichen Definition benutzt. Du sagst z. B. Kooperation – und meinst aber eigentlich den Zwang zum Mitmachen. Du bezeichnest Kinder oder Eltern, die anderer Meinung sind oder nicht das tun wollen, was Du ihnen aufgetragen hast, als unkooperativ. Sind sie wirklich unkooperativ, oder einfach nur anderer (eigener) Meinung?
Du sprichst außerdem von Disziplin der Schüler*innen (z. B. wenn alle ruhig sind und das machen, was Du ihnen aufgetragen hast), dabei meinst Du eigentlich Gehorsamkeit oder Gefügigkeit. Ist Disziplin nicht etwas vollkommen anderes?
“Ich frage mich außerdem: Warum bewertest und beurteilst Du Menschen ungefragt?”
Und dann möchtest Du so vielen Kindern helfen oder sie unterstützen (dabei, das zu tun, was Du von ihnen willst bzw. ihnen aufgetragen hast), und scheinst gar nicht zu merken, dass diese Hilfe, die Du ungefragt anbietest oder manchmal sogar aufdrängst, eigentlich in Wahrheit Übergriffigkeit ist. Hast Du diejenigen, denen Du helfen möchtest, “in die Spur zu kommen” (also in deine Spur!), mal gefragt, ob sie das überhaupt wollen? Und: wenn ein Mensch, der zu Deinem System gehört (Schüler*innen, Eltern, Lehrer*innen) wirklich Unterstützung braucht, bietest Du ihm diese dann wirklich an, oder nur das, was Du selbst unter Unterstützung verstehst?
Ich frage mich außerdem: Warum bewertest und beurteilst Du Menschen ungefragt? Was bezweckst Du damit? Was möchtest Du erreichen? Und hast Du jemals geprüft, ob das, was Du damit erreichen möchtest, auch tatsächlich eintritt?
Und wenn Du das so machst, Menschen zu beurteilen und zu bewerten, fändest Du das für Dich selbst auch ok? Wenn Menschen Dich ungefragt beurteilen?
Und warum eigentlich betitelst Du Menschen ungefragt („Ihr seid jetzt die Eichhörnchenklasse! Hallo liebe Eichhörnchen!“)? Fändest Du das anderes herum auch in Ordnung? Wenn die Schüler die Lehrerin ungefragt Frau Waschbär nennen? Oder den Lehrer Herrn Nashorn?
Warum forderst Du Respekt und Rücksichtnahme ein, bewegst Dich selbst aber unentwegt und ungefragt in den persönlichen Bereich der Kinder hinein, in dem Du ihr Recht auf Freiheit beschränkst, ihnen Aufträge erteilst, sie in Klassen und Gruppen einteilst, sie bewertest, einstufst und selektierst… Und wunderst Dich dann, wenn Kinder über Dein Verhalten wütend werden und weist ihnen ein Aggressionsproblem zu? Oder wunderst Dich, wenn Kinder Dein Verhalten kopieren und selber übergriffig werden, weil Sie es so von Dir vorgelebt bekommen? Und nimmst dann noch (stolz?!) ein Anti-Mobbing Programm in dein Schulprofil auf?
“Ist echtes und vor allem auch nachhaltiges Lernen nicht leicht und lebendig, organisch und voller Begeisterung?”
Und dann das Thema Lernen. Darum geht es doch eigentlich bei Dir! Warum nennst Du Auswendiglernen und Reproduzieren eigentlich Lernen? Weißt Du denn gar nicht, was Lernen ist? Und wie es funktioniert? Darüber haben doch so viele kluge Menschen schon so viel geforscht, und viele Erkenntnisse gewonnen. Das kann jeder in klugen Büchern oder im Internet nachlesen. Hast Du das mal gemacht? Warum wendest Du diese ganzen Erkenntnisse denn nicht an? Ist echtes und vor allem auch nachhaltiges Lernen nicht leicht und lebendig, organisch und voller Begeisterung? Und ist dann auch nach Jahren noch präsent und abrufbar?
Und wie war das noch mit der Motivation: zu dem, was Du Lernen nennst, bringst Du die Kinder mit Belohnungen (und manchmal auch noch mit Bestrafungen), oder auch mit der Angst vor schlechten Noten. Du benutzt also äußere Motivationsfaktoren. Interessiert Dich denn die innere Motivation der Kinder gar nicht? Oder nur dann, wenn sie den Zielen entspricht, die Du Dir ausgedacht hast? Warum nimmst Du so wenig Rücksicht auf die innere Motivation und vor allem die eigenen Interesse und Talente der Kinder? Der innerste Antrieb ist doch die allerwichtigste Voraussetzung für Lernen! Ich verstehe Dich nicht.
Und dann: wenn das Lernen ja auch oft bei Dir nicht so läuft, wie Du Dir das wünscht: warum suchst Du dann immer die Schuld bei den anderen? Warum sind dann immer die Kinder nicht so erzogen, wie Du sie brauchst, oder warum haben nur die Medien so einen fatalen Einfluss, und warum nur können die Eltern ihre Kinder heute nicht mehr erziehen? Interessieren Dich die Antworten überhaupt? Gehst Du in einen wirklich offenen und echten Dialog mit Deinen ‘Kunden’ oder Mitarbeitern, also den Eltern, Schüler*innen und Lehrer*innen? Hast Du sie mal gefragt, warum sie so sind, wie sie nun einfach sind?
Und eins noch: Du sagst doch, Du machst Demokratieerziehung. Und dann setzt Du aber alle Regeln selber und forderst ein, dass die Regeln eingehalten werden. Regeln einhalten lernen und selber keinen Einfluss darauf zu haben, das ist doch das Gegenteil von Demokratie. Oder was sagst Du dazu?
Und warum überhaupt verbietest Du demokratisch oder soziokratisch organisierte Schulen in Deutschland? Meinst Du es denn gar nicht richtig ernst mit der Demokratie?
Warum tust Du außerdem immer so, als gäbe es keine Alternative zu Dir? Hast Du vielleicht Angst, dass wir Dich gar nicht mehr wollen? Fang doch mal bei Dir an! Könntest Du vielleicht aufhören, immer der Bestimmer sein zu wollen? Lass uns doch zusammenarbeiten, in echter Kooperation und mit echter Wertschätzung auf beiden Seiten! Dann müssen wir vielleicht nicht immer so viel streiten. Du hast so viel wundervolles Potential! All die wunderbaren Menschen, die bei Dir arbeiten, lass ihnen doch endlich Freiheit und Selbstbestimmung! Die können das! Hast Du denn nicht auch Lust, Dich zu echter Größe und Reife zu entwickeln? Wir alle lieben und brauchen Dich, irgendwie, und Du könntest es uns etwas einfacher machen, Dich von Herzen zu lieben.
Deine ewige Schülerin
Eine Mutter von vier schulpflichtigen Kindern, die anonym bleiben möchte.
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