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Schule ohne Noten: Kretschmann hält den Streit für „überschätzt“ –  weiß aber auch: Es geht um die Grundsatzfrage der Pädagogik  

STUTTGART. Ginge das Bildungsland Deutschland unter, wenn es in den Schulen keine Zensuren mehr gäbe? Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hält den Dauerstreit, der durch ein neues Modellprojekt in Grundschulen wieder aufgeflammt ist, für übertrieben. «Das ist heiß umkämpft und wird überschätzt», sagte der 74-jährige Grüne, der früher selbst als Lehrer tätig war, am Dienstag. Es sei ja nicht so, dass Schülerinnen und Schüler überhaupt nicht benotet würden, sie bekämen nur eben Verbalbeurteilungen.

“Töpfer oder Gärtner”: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) über das Selbstverständnis von Lehrkräften. Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg

Nach den Plänen des Kultusministeriums von Baden-Württemberg sollen Jungen und Mädchen an 37 Schulen von der ersten bis zur vierten Klasse vom kommenden Schuljahr an keine Zensuren mehr bekommen. Ein solcher Testlauf, den es vor zehn Jahren schon mal gab, war bereits im Koalitionsvertrag von Grün-Schwarz vereinbart worden – jetzt ist er gestartet worden. Der Philologenverband hat aus Anlass des Modellversuchs eine Grundsatzdebatte um die Leistungsorientierung an Schulen angestoßen, wie News4teachers berichtet.

Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) sagt: „Wir wollen mit dem Schulversuch untersuchen, wie es sich auswirkt, wenn Schülerinnen und Schüler differenzierte Leistungsrückmeldungen statt Noten bekommen.“ Leistungsrückmeldungen hätten nachweislich Einfluss auf die Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern. Sie könnten die Lernmotivation stärken und Schülerinnen und Schüler so zu besseren Leistungen und erfolgreichem Lernen antreiben. Um herauszufinden, ob differenzierte Leistungsrückmeldungen sich positiv auf die Lernmotivation auswirken und so auch das Lernen verbessern könnten, dazu solle der Schulversuch dienen.

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„So hat die Note 3 in Deutsch relativ wenig Aussagekraft. Sie gibt den Grundschülerinnen und -schülern keine Rückmeldung”

„Dabei bekommen die Grundschulkinder keine Noten. Stattdessen werden ihre Leistungen kontinuierlich im Unterricht und in regelmäßigen Lernentwicklungsgesprächen mit ihnen erörtert. Grundlage für die Beurteilung sind regelmäßige Lernstandsdiagnosen. Um den Schülerinnen und Schülern die Rückmeldungen verständlich zu machen, sollen die Leistungen möglichst auch visualisiert werden. Mindestens am Ende jedes Schulhalbjahres muss mit den Kindern und ihren Eltern außerdem ein Lernentwicklungsgespräch geführt werden“, so heißt es im Kultusministerium.

„So hat die Note 3 in Deutsch relativ wenig Aussagekraft. Sie gibt den Grundschülerinnen und -schülern keine Rückmeldung, wie gut sie jeweils in den Teilbereichen in Deutsch, also im Lesen, Schreiben oder in der Rechtschreibung sind“, erklärt Schopper. Sie ergänzt: „Der Modellversuch wird evaluiert und am Ende wollen wir vergleichen, wie es um die Unterrichtsqualität und die Leistungen der Schülerinnen und Schüler bestellt ist. Da insbesondere leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler durch Ziffernoten demotiviert werden können, interessiert mich, ob gerade bei diesen Grundschulkindern der Ansatz dazu beiträgt, die Lernmotivation hoch zu halten. Und ob der Ansatz bei leistungsstarken Kindern hilft, noch mehr aus ihrem ohnehin schon großen Potential heraus zu holen.“ Auch leistungsstarke Schülerinnen und Schüler könnten also von dem Schulversuch profitieren. Sie erhielten ebenfalls ein differenziertes Feedback, das ihnen aufzeige, in welchen Teilbereichen sie sich noch verbessern können.

“Wenn sie denselben Aufsatz von verschiedenen Lehrern benoten lassen, kommt nicht dieselbe Ziffernnote dabei heraus”

Die Ziffernnoten von eins bis sechs und Verbalbeurteilungen hätten beide Vor- und Nachteile, so meint Kretschmann nun. Ziffernnoten seien für alle klar verständlich, aber ihre Gültigkeit sei umstritten, denn: «Wenn sie denselben Aufsatz von verschiedenen Lehrern benoten lassen, kommt nicht dieselbe Ziffernnote dabei heraus.» Verbalbeurteilungen seien genauer, aber schwerer verständlich, erklärt Kretschmann. Wichtig sei nun, dass der Modellversuch genau untersucht werde und man dann die richtigen Schlüsse ziehe.

Kretschmann sagt, die Kontroverse über die Frage, ob eine Lehrkraft «Töpfer oder Gärtner» sein solle, gebe es eben schon lange. Der Töpfer sei der Meinung, der junge Mensch müsse geformt werden, um ein guter Bürger zu werden, der die Welt versteht und sich in ihr bewährt. Der Gärtner sage: «Man muss nur gute Bedingungen schaffen, dann wachsen sie von allein zu guten Bürgerinnen und Bürgern heran.» Zwischen diesen Denkschulen könne man keine Einigung erzielen.

Die Forschung sage aber sowieso: «Es kommt auf den Lehrer an.» Wenn dieser seine Methode und seinen Stil überzeugt durchziehe und mit Leidenschaft dabei sei, habe er auch Erfolg mit seinen Schülerinnen und Schülern. «Das entspannt den Streit doch erheblich», meinte der frühere Lehrer für Biologie, Chemie und Ethik. Auf die Frage, ob er damals eher ein Töpfer oder ein Gärtner gewesen sei, antwortet Kretschmann: «Mal so, mal so.» News4teachers / mit Material der dpa

Eltern dürfen ihr Kind abmelden

Der Schulversuch  „Lernförderliche Leistungsrückmeldung in der Grundschule“ des Kultusministeriums Baden-Württemberg wird im kommenden Schuljahr 2022/2023 in den Klassen 1 und 2 der 37 teilnehmenden Grundschulen beginnen.

Er ist auf vier Jahre ausgelegt. In den folgenden Schuljahren bis 2025/2026 wird der Schulversuch in den bereits teilnehmenden Klassen fortgeführt und jeweils um die neuen ersten Klassen der Schulen erweitert. Über drei Jahre wird der Schulversuch evaluiert, im vierten Jahr wird dann der Evaluationsbericht erstellt. Auch eine Teilnahme ab dem Schuljahr 2023/2024 am Schulversuch ‚Lernförderliche Leistungsrückmeldung in der Grundschule‘ ist noch möglich, dann muss mit dem Schulversuch in den Klassen 1 und 2 begonnen werden.

Beim Schulversuch wird am Ende der jeweiligen Klassenstufe laut Kultusministerium keine Versetzungsentscheidung ausgesprochen. Am Ende der Grundschule wird festgestellt, ob das Ziel der Grundschule erreicht wurde. Dies ist dann der Fall, wenn die erreichten Kompetenzen die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht einer auf der Grundschule aufbauenden Schulart erwarten lassen.

Voraussetzung für die Teilnahme einer Grundschule am Schulversuch ist ein Antrag der Schule, die Zustimmung der Gesamtlehrerkonferenz und der Schulkonferenz sowie die Beratung des Schulversuchs im Elternbeirat. Ferner wird sichergestellt, dass der Schulversuch nicht gegen den Willen der Eltern stattfindet. Sollten einzelne Eltern nicht wollen, dass ihr Kind am Schulversuch teilnimmt, ist ausnahmsweise der Wechsel an eine andere Grundschule gestattet. Ebenfalls möglich ist grundsätzlich auch ein Wechsel an eine Schule, die an dem Schulversuch teilnimmt.

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