DÜSSELDORF. Von einer breiten Woge der Begeisterung kann keine Rede sein: Lehrkräfte zeigen sich mehrheitlich skeptisch gegenüber den segensreichen Wirkungen der Digitalisierung von Schule – in elf Ländern Europas. In Deutschland ist die kritische Haltung besonders deutlich ausgeprägt. Lediglich 17 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer hierzulande sehen in digitalen Lernmedien eine Hilfe, um die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Das sind die Ergebnisse einer neuen internationalen Studie.
Lehrkräfte in Europa sind sich weitgehend einig: Die Schulen sind dafür verantwortlich, die Kompetenzen für die Zukunft – die sogenannten „21st Century Skills“ – der Schüler:innen zu fördern, zu denen u.a. digitale Kompetenzen gehören. Eine IPSOS-Befragung von 3.082 Lehrer:innen in elf europäischen Ländern im Auftrag der Vodafone Group Foundation verdeutlicht, dass Schulen im europäischen Ländervergleich jedoch sehr unterschiedlich darauf vorbereitet sind, eine Kultur der Digitalität im Klassenzimmer zu gestalten.
Die Umfrage fand in elf Ländern statt: Albanien, Deutschland, Großbritannien, Griechenland, Ungarn, Italien, Niederlande, Portugal, Rumänien, Spanien und der Türkei. In etlichen Bereichen der digitalen Bildung gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern. Beispielsweise schätzen Lehrkräfte aus Griechenland, Spanien und Portugal ihre digitalen Lehrkompetenzen deutlich höher ein als deutsche Lehrkräfte, die im europäischen Vergleich auf den hinteren Plätzen liegen.
“Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, dass sich nicht alle Lehrkräfte abgeholt und gestärkt fühlen, wenn es um digitalen Unterricht geht”
„Die Lehrkräfte in Deutschland sind ganz besonders seit dem Frühjahr 2020 vor enorme Herausforderungen gestellt worden, wenn es um digitalen Unterricht geht. Viele haben die Umstellung schnell gemeistert. Die Ergebnisse unserer Studie zeigen jedoch, dass sich nicht alle Lehrkräfte abgeholt und gestärkt fühlen, wenn es um digitalen Unterricht geht. Und ein Großteil erkennt noch nicht die vollen Potenziale, die guter digitaler Unterricht bieten kann“, erklärt Matthias Graf von Kielmansegg, Geschäftsführer der Vodafone Stiftung Deutschland. „Wir wollen die nächste Generation junger Menschen erfolgreich auf die Herausforderungen einer immer komplexeren Welt vorbereiten. Dafür müssen wir Lehrkräften die Möglichkeit geben, zu erleben, dass guter digitaler Unterricht tatsächlich eine Hilfe und Unterstützung und keine Zusatzlast ist.“
Trotz der Umstellung auf digitales Lehren und Lernen in Zeiten von Schulschließungen während der Corona-Pandemie zeigt die Studie, dass die digitalen Kompetenzen der europäischen Lehrer:innen sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. In Deutschland stufen nur 38 Prozent der Lehrkräfte (48 Prozent im europäischen Vergleich) ihre digitalen Kompetenzen als hoch ein. 24 Prozent der befragten deutschen Lehrkräfte geben an, dass sie wenig oder gar keine Erfahrung mit der Nutzung digitaler Technologien im Unterricht haben. Bei der Vermittlung digitaler Kompetenzen durch Schulen sind die in Deutschland befragten Lehrkräfte im Vergleich pessimistischer eingestellt: 45 Prozent äußern, dass ihre Schule aktuell nicht ausreichend ausgerüstet sei, um digitale Kompetenzen adäquat zu vermitteln (38 Prozent im europäischen Vergleich).
Nur eine Minderheit der Lehrkräfte spricht digitalen Technologien und Medien die Fähigkeit zu, den Unterricht generell effektiver zu machen und sie bei ihrer Lehrtätigkeit zu entlasten. Zwar geben 57 Prozent der Lehrkräfte an, dass ihre Schüler:innen durch digitale Technologien einen besseren Informationszugang erhalten. Aber nur ein Drittel schätzen sie als geeignetes Instrument im Unterricht ein, um Schüler:innen mit unterschiedlichem Lerntempo und Lernstärken auf ein ähnliches Niveau zu bringen. Lediglich 17 Prozent sehen in ihnen eine Hilfe, um die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen zu verbessern und nur 15 Prozent das Potenzial, Kinder und Jugendliche mit besonderen Unterstützungsbedarfen besser zu fördern (33 Prozent im europäischen Vergleich).
Als größtes Potenzial digitaler Technologien erkennen Lehrerinnen und Lehrer die Mög–
lichkeit, ihren Schüler:innen Zugang zu besseren Informationsquellen zu ermöglichen
und sie darin zu befähigen, sich selbst Kompetenzen für ihre Zukunft anzueignen. Auch
Lehrkräfte in Deutschland (57 Prozent) teilen diese Meinung. Zugleich sind nur 15 Prozent der Befragten in Deutschland davon überzeugt, dass durch den Einsatz digitaler Technologien auch Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf besser unterstützt werden können. Mit dieser Einschätzung liegen sie im europäischen Vergleich auf dem letzten Platz.
Die Mehrheit der europäischen Lehrkräfte macht sich Sorgen über die Risiken, die digitale
Technologien für den Bereich des Lernens und Lehrens mit sich bringen. Ihre Bedenken
beziehen sich insbesondere auf ein zunehmendes Gefährdungspotenzial durch Desinformation sowie die Schwächung traditioneller Fähigkeiten – wie Handschrift oder das
Lesen von Büchern – bei der heranwachsenden Generation. In Deutschland befürchten
mit 65 Prozent unterdurchschnittlich viele Lehrkräfte das Risiko der Desinformation, wenn auch auf recht hohem Niveau. Weitaus mehr Lehrkräfte hierzulande fürchten (79 Prozent), dass Kulturtechniken wie Handschrift oder das Lesen von Büchern an Relevanz verlieren.
78 Prozent der europäischen Lehrkräfte beklagen zudem, dass die Erwartungen der regionalen Regierungen an den digitalen Unterricht zu hoch und nicht realistisch sind – jedenfalls zum gegenwärtigen Stand.
“Die wahrgenommenen Risiken, d. h. Sorgen, Ängste und Vorbehalte der Lehrkräfte, müssen ernst genommen und aufgegriffen werden“
Im internationalen Vergleich fällt auf, dass Lehrkräfte in Deutschland den 21st Century Skills ihrer Schüler:innen (neben digitalen Kompetenzen u.a. Verantwortungsbewusstsein, Flexibilität und Resilienz) eine hohe, aber etwas geringere Relevanz zuschreiben als ihre europäischen Kolleg:innen. Auffallend wenig deutsche Lehrkräfte sehen im Einsatz digitaler Technologien die Möglichkeit, neben digitalen Kompetenzen auch weitere Zukunftskompetenzen zu fördern und so auf breitere Bildungsziele einzuzahlen.
Prof. Julia Knopf, Leiterin des Lehrstuhls Fachdidaktik Deutsch Primarstufe an der Universität des Saarlandes, kommentiert die Studienergebnisse: “Um die Potenziale digitaler Technologien im Unterricht gewinnbringend nutzen zu können,
müssen die wahrgenommenen Risiken, d. h. Sorgen, Ängste und Vorbehalte der Lehrkräfte, ernst genommen und aufgegriffen werden. Lehrkräften muss dabei einerseits verdeutlicht werden, dass digitale Technologien analoge Möglichkeiten keineswegs verdrängen bzw. abschaffen, sondern vielmehr sinnvoll ergänzen sollen.”
Dass beispielsweise die Handschrift zugunsten digitaler Technologien verschwinde – wie viele Lehrkräfte in Deutschland befürchten -, sei mehr als unwahrscheinlich. Knopf: “Auch in einer smarten, adaptiven und vernetzten Lernumgebung wird es neben den digitalen Angeboten auch immer Stift und Papier geben. Kommende Generationen werden vielmehr analoge und digitale Möglichkeiten viel selbst verständlicher miteinander verbinden: Sie lesen und schreiben beispielsweise analog, werden aber digital dabei begleitet. Entsprechende Konzepte, die beides sinnvoll kombinieren, gibt es. Andererseits muss Lehrkräften in Fortbildungen vermittelt werden, wie sie mit Risiken der digitalen Technologien umgehen und wie den zuvor beschriebenen negativen Faktoren im Unterricht begegnet werden kann.” News4teachers
Hier lässt sich die vollständige Studie herunterladen.