Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek
BERLIN. Das Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der KMK zum Lehrermangel macht deutlich: Der Staat ist mit seinem Latein am Ende. Die Politik wird mit dirigistischen Maßnahmen dauerhaft kein angemessenes Bildungsniveau gewährleisten können. Es ist deshalb an der Zeit, die Gesellschaft mit an Bord zu holen: die Wirtschaft. Und die Eltern.
Die Kultusministerinnen und Kultusminister in Deutschland leisten nun – nachdem sie zuletzt in der Corona-Krise kläglich versagt und die Kitas und Schulen im Stich gelassen haben – mit dem von ihnen nahezu kommentarlos veröffentlichen Papier der SWK endgültig einen Offenbarungseid: Es wird ihnen auf absehbare Zeit nicht gelingen, ein Bildungssystem zu gewährleisten, das dem Status von Deutschland als einem der reichsten Industrieländer der Welt entspricht. Dies ist misslich – nicht allein deswegen, weil Bildung die Grundlage von Kultur, Wissenschaft und Demokratie darstellt, sondern auch deshalb, weil der Status von Deutschland als Industrieland und damit der breite Wohlstand im Wesentlichen von den Fähigkeiten und Fertigkeiten seiner Menschen abhängt. Bodenschätze hat Deutschland eher weniger zu bieten.
Der Befund, dass Deutschlands Bildung wackelt, ist nicht neu. Seit über 20 Jahren (genauer: seit PISA 2000) ist bekannt, dass ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler die Mindestanforderungen nicht erreicht. Politisch aber ist seitdem nichts passiert, um diesen Umstand zu ändern, zumindest zu lindern. Wir verzeichnen einen gravierenden Fachkräftemangel in Deutschland – und leisten uns alljährlich 50.000 Schülerinnen und Schüler, die ohne Abschluss und damit ohne Ausbildung bleiben. Nun haben wir keineswegs ein so tolles Schulsystem, dass man behaupten könne, damit sei das Ende der Fahnenstange dessen erreicht, was in Sachen Förderung möglich wäre. Ergo: Wir verschleudern ein riesiges Potenzial für dieses Land (von der individuellen Tragik scheiternder Bildungskarrieren mal ganz abgesehen).
“In Deutschlands Bildung regiert Chaos; nirgends ist auch nur im Ansatz zu erkennen, dass sich praktikable Lösungen abzeichnen”
Reformbemühungen? Ja, die hat es in den vergangenen zwei Jahrzehnten gegeben. Und sie sind allesamt auf derart groteske Art und Weise gescheitert, dass der Berliner Flughafen dagegen geradezu als Musterprojekt gelten kann (er ist immerhin nach 14 Jahren Bauzeit dann doch mal fertig geworden). Ob Inklusion, G8, Digitalisierung der Schulen, Schulstrukturen oder auch nur die Vergleichbarkeit von Abschlüssen über Bundesländergrenzen hinweg – in Deutschlands Bildung regiert Chaos; nirgends ist auch nur im Ansatz zu erkennen, dass sich praktikable Lösungen abzeichnen. Ein Sanierungsstau an den Schulgebäuden von sage und schreibe 45 Milliarden Euro sei hier nur am Rande erwähnt. Und jetzt kommt noch ein Lehrermangel obendrauf, der die Dimension hat, das System endgültig zum Kippen zu bringen.
Ums mal deutlich auszusprechen: Die Politik ist mit ihrem Latein am Ende. Das Bildungsmonopol, das der Staat mit der Schulpflicht de facto für sich beansprucht, ist nicht mehr einzulösen. Das machen die „Empfehlungen“ – besser: die Folterinstrumente – der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK deutlich. Sie bedeuten lediglich die Wahl zwischen Pest und Pocken. Werden Maßnahmen wie Mehrarbeit, größere Klassen und Hybridunterricht nicht eingesetzt, weil die Politik den Widerstand von Elternschaft und Lehrkräften scheut, wird das System zusammenbrechen, weil die bevorstehende Pensionierungswelle nicht mehr flickbare Löcher reißt. Werden sie eingesetzt, wird das System zusammenbrechen, weil der Lehrerberuf so unattraktiv geworden ist, dass der Nachwuchs vollends ausbleibt.
Die Konsequenz: Ein Weiter-so ist nicht mehr möglich. Das Modell, eine Lehrkraft unterrichtet 25 bis 30 Schüler im Klassenverbund 45 Minuten lang in einem Fach und überprüft die Lernergebnisse mit regelmäßigen, von ihr selbst gestellten und korrigierten Klassenarbeiten, ist mit den staatlich verfügbaren Personalressourcen nicht mehr haltbar, zumindest nicht mit den bisherigen inhaltlichen Vorgaben. Es ist also an der Zeit, jetzt die Luft aus dem System herauszulassen. Bedeutet: Ohne eine Verschlankung der Lehrpläne wird es nicht gehen. Auch die Abläufe müssen unter Effizienzgesichtspunkten neu organisiert werden. Stichwort Korrekturen: Dass Lehrkräfte, die unterrichten, auch die Klassenarbeiten und Klausuren ihrer Lerngruppen korrigieren müssen, ist kein Naturgesetz – diese Arbeit können auch externe Dienstleister übernehmen und Lehrkräfte so ganz massiv entlasten.
“Eine Schulpflicht ist in einer Situation, in der der Staat die Schulen dauerhaft verkommen lässt, nicht angemessen”
Hier kommen wir an einen entscheidenden Punkt. Wenn der Staat seine eigenen Ansprüche so drastisch reißt, wie sich nun abzeichnet, wäre es an der Zeit, mal grundsätzlich umzudenken: Die Arroganz zu glauben, nur der Staat allein könne für gute Bildung sorgen, hat erkennbar keine Grundlage mehr. Die Politik muss die Gesellschaft mit an Bord holen.
Was bedeutet das konkret? Die Wirtschaft hat für viele Probleme, die in den Schulen auftauchen, längst Lösungen entwickelt. Stichwort Individuelle Förderung: Es gibt einen Nachhilfemarkt in Deutschland, der ein Volumen von geschätzt 1,5 Milliarden Euro im Jahr umfasst. Warum sollte der Staat (der ja reichlich Geld, das er für unbesetzte Lehrerstellen nicht ausgeben kann, übrig hat) nicht auch Nachhilfeinstitute damit beauftragen, am Nachmittag Nachhilfe für Schülerinnen und Schüler in der Schule anzubieten? Was noch den Vorteil hätte, dass dann nicht nur finanziell solvente Familien in den Genuss derselben kämen.
Es gibt Diagnose- und Förderplattformen, wie beispielsweise im Bereich Rechtschreibung den aus der Universität Münster hervorgegangenen „Lernserver“, die sehr viel präziser als einzelne Lehrkräfte Defizite von Schülerinnen und Schülern aufdecken und mit intelligenten digitalen Instrumenten beheben können – warum kaufen Kultusministerien solche Lösungen nicht zentral ein? Es gibt millionenfach von Schülerinnen und Schülern am Nachmittag genutzte Lernvideos – warum werden die nicht systematisch für den Unterricht aufbereitet und bereitgestellt? Der Markt für berufliche Weiterbildung ist weltweit gigantisch – warum werden dort erfolgreich genutzte Lernformate wie Blended Learning nicht für die Schule adaptiert? Es gibt mittelständische IT-Unternehmen in Deutschland, die sich auf Dienstleistungen für Schulen spezialisiert haben – warum müssen immer noch Lehrkräfte sich darum kümmern, dass die Computer an Schulen laufen?
Last but not least: Lasst die Eltern von der Kette! Eine Schulpflicht ist in einer Situation, in der der Staat die Schulen dauerhaft verkommen lässt, nicht angemessen. Warum sollten Eltern, die den Massenbetrieb meiden möchten, ihre Kinder nicht zu Hause unterrichten dürfen – so wie es in anderen Staaten, die statt einer Schul- eine Bildungspflicht haben, längst üblich ist? Welche Dynamik könnte entstehen, wenn Eltern sich zusammenschließen und gemeinsam Lernangebote für ihre Kinder entwickeln könnten (deren Erfolg dann nur noch mittels zentraler Prüfungen kontrolliert werden müsste)!
Klar sollte langsam sein: Schlechter als das, was der Staat allein anzubieten hat, kann es nicht werden. News4teachers
