MÜNCHEN. Auf der einen Seite kocht der Ärger um den Lehrkräftemangel hoch – auf der anderen Seite wird das Bild einer digitalen Hightech-Schule entworfen, in der das Lernen mit Laptop und interaktiver Tafel bald zum Alltag gehört (News4teachers berichtete): Auch das vermeintliche Bildungswunderland Bayern, das nach wie vor bei fast allen einschlägigen Bundesländerrankings in der Spitzengruppe liegt, ringt um die Zukunft der Schulen. Im Vorfeld der edu:regio in München sprachen wir mit dem Vorsitzenden des Bayerischen Philologenverbands Michael Schwägerl.
News4teachers: Das wohl drängendste Problem der Schulen ist der Lehrkräftemangel – bundesweit. Herr Söder ist auf die Idee gekommen, in anderen Bundesländern zu wildern, um den bayrischen Lehrkräftemangel zu bekämpfen. Halten Sie das für eine sinnvolle Initiative?
Schwägerl: In der Not greift man zu allen möglichen Mitteln, sage ich jetzt mal vorsichtig. Das Thema hat ja verschiedene Facetten. Zunächst gibt es den Austausch von Lehrkräften über Ländergrenzen hinweg schon lange. Allerdings ist der nach Bayern bislang nicht wie ein breiter Strom geflossen, sondern war eher ein Rinnsal.
News4teachers: Der Austausch lief aber bisher auf Gegenseitigkeit…
Im Februar 2023 feierte sie in Düsseldorf eine erfolgreiche Premiere, am 6. Mai 2023 kommt sie nach München: die edu:regio. Das pädagogische Großevent bietet Lehrkräften (und allen anderen, die für Schule Verantwortung tragen) informative Vorträge aus der Praxis, Gespräche mit Tiefgang, ein individuelles Fortbildungsprogramm und eine fachliche Ausstellung mit einem Schwerpunkt auf digitale Bildungsmedien. Der Philologenverband ist maßgeblich beteiligt.
Informations-Angebote in Gestalt von Vorträgen und Workshops gibt es auf der edu:regio für alle Schulformen von der Grundschule („Kinder für das Lesen begeistern“) bis zum Gymnasium („Kompetenz- und Sprachentwicklung ganz abiturorientiert – Englischunterricht der Sekundarstufe II“). Auch besondere Herausforderungen für Lehrkräfte werden thematisiert: „Schulrecht praxisnah. Von Entscheidungen der Schulfamilie: Reden wir über Geld!“, so lautet der Titel eines Praxis-Workshops, in dem Ina Hesse, Rechtsschutzreferentin im Bayerischen Philologenverband, Haftungsfragen klären will – etwa bei Schülerfahrten oder bei Sammelbestellungen.
Das komplette Programm und Tickets gibt es hier: https://bildungsmedien-kongresse.de/veranstaltungen/edu-regio/muenchen/veranstaltung
Schwägerl: Genau – eine Lehrkraft kommt und die andere geht. Aber das sind sehr kleine Zahlen gewesen, in der Größenordnung von zehn, manchmal 20 von einem Bundesland zum nächsten. Und in der Summe auch nicht mehr als etwa 50 pro Jahr. Jetzt allerdings sind alle in einer Notlage – und dass man hier jetzt auf massives Abwerben setzt, vor allem das dann auch finanziell durch sogenannte Umzugshilfen unterstützt, ist für uns ein schwieriges Thema. Generell sitzen wir in Deutschland in einem Boot. Uns wäre es lieber, wenn man gemeinschaftlich nach Lösungen sucht, die darin liegen müssen, dass in allen Ländern genügend Lehrkräfte ausgebildet werden. Da gab es durchaus große Unterschiede in den letzten Jahren.
News4teachers: Wie ist denn die Situation in Bayern speziell an den Gymnasien? Bislang war es dort noch relativ beschaulich, was den Lehrkräftemangel betrifft, oder?
Schwägerl: Die großen Problematiken kommen erst in den nächsten Jahren. Das ist richtig. Der rechnerische Bedarf, sagen wir mal so, konnte bislang gedeckt werden, auch im kommenden Herbst wird es voraussichtlich noch funktionieren. Aber ab 2025 haben wir das 13.Schuljahr wieder am Gymnasium. Zusammen mit der neuen Oberstufe ergibt sich damit ein Einstellungsbedarf in der Größenordnung von 3.000 Lehrkräften. Zum Vergleich: Normalerweise liegen wir zwischen 1.100 und 1.300. 3.000 in einem Jahr, die werden wir nicht so einfach stemmen können. Die Jahre danach, also ab 2025/2026, haben wir auch nach den Prognosen des Kultusministeriums jedes Jahr eine Unterdeckung. Diese fortlaufende Differenz gilt es in irgendeiner Form zu lösen. Im Moment können wir noch den Unterricht einigermaßen gut abdecken, aber schon nicht mehr, wenn Krankheiten auftreten. In Zukunft wird das noch sehr viel schwieriger werden. Deswegen sind wir schon seit langem unterwegs, um entsprechende Maßnahmen zu fordern.
News4teachers: Zumal an den Gymnasien ja auch das Problem des Fachlehrermangels noch dazu kommt…
Schwägerl: Absolut. Wenn man sich die Fächer spezifisch anschaut, dann haben wir einen Lehrermangel schon seit Jahren – in Kunst und Musik, in Physik, teilweise auch in Mathematik, in Informatik und neuerdings auch in den Sprachen. Selbst das Fach Deutsch kommt jetzt in die Problematik. Früher gab es hunderte Deutschlehrkräfte auf den Wartelisten. Jetzt sind kaum mehr welche zu finden.
News4teachers: In Nordrhein-Westfalen ist jetzt das Problem aufgetaucht, dass Lehrkräfte offenbar unter der starken Belastung den Schuldienst quittieren. Befürchten Sie eine solche Entwicklung auch für Bayern?
Schwägerl: Bis jetzt nicht. Die hohe Belastung drückt sich aber darin aus, dass verstärkt Teilzeit gesucht wird, um dem Druck zu entgehen. Das stellen wir schon fest. Deswegen haben wir im vergangenen Herbst auch eine breite Untersuchung angestellt, unter welchen Bedingungen Lehrkräfte mehr arbeiten würden – und die Antworten sind eindeutig: Gefordert werden Unterstützungsmaßnahmen, um in den Bereichen zu entlasten, die nicht im Unterricht liegen, die also nicht zum Kerngeschäft der Lehrkräfte gehören.
News4teachers: Gehört dazu auch das Korrigieren, was für viele Gymnasiallehrkräfte eine sehr große zeitliche Belastung darstellt? Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK hat ja gerade erst empfohlen, Korrekturen von Externen – von Studierenden – vornehmen zu lassen. Für Sie eine Option?
Schwägerl: Eher nicht. Die Korrektur nach außen zu geben, also die Einordnung dessen, wie die Schülerleistung im Gesamtkontext und im Lernfortschritt zu bewerten ist, das halte ich für den falschen Weg. Allerdings geht es durchaus um die Quantität der Korrekturen: Wie umfangreich muss eine schriftliche Leistungsmessung sein, eine Klausur, eine Schulaufgabe? Wie häufig muss eine schriftliche Leistungserhebung tatsächlich stattfinden, um ein gutes Bild über den Leistungsstand zu bekommen, um entsprechend Feedback geben zu können? Das sind Punkte, bei denen man ansetzen kann. Die Korrektur ist ja kein Selbstzweck. Man sollte schon überlegen, ob man vielleicht einen Schritt zurücktreten kann, wenn insgesamt die Belastungen so hoch sind und der Lehrermangel uns im Nacken sitzt.
News4teachers: Damit kommen wir in den Bereich der Diagnose – und zum Thema Digitalisierung. Es gibt ja immer mehr digitale Diagnose-Formate, die Lehrkräfte nutzen könnten, um zwischendurch mal den individuellen Leistungsstand in bestimmten Themenfeldern zu ermitteln. Ist deren Einsatz eine Utopie – oder eine realistische Perspektive?
Schwägerl: Woran denken Sie? An Lernstandserhebungen am Computer?
News4teachers: Durchaus. Ob Grammatik- oder Vokabeltests, um mal das Beispiel Sprachen zu nennen: Solche Formate lassen sich ja problemlos digitalisieren. Wenn solche Tools nun regelmäßig zum Einsatz kämen, könnten doch etliche Klassenarbeiten entfallen, oder?
Schwägerl: Das wird ja teilweise auch jetzt schon praktiziert. Das Problem ist aber, dass der Einsatz auch entsprechend vorbereitet werden muss. Die Inhalte müssen zugeschnitten sein auf die spezifische Situation in der Klasse und auf den Fachunterricht. Richtig ist schon, dass die Auswertung dann in der Regel sehr einfach ist, das erledigt die Software. Das könnte durchaus unterstützend sein. Die Frage pauschal zu beantworten, ist allerdings schwierig.
News4teachers: Wie sieht es denn überhaupt mit der Digitalisierung der Schulen in Bayern aus? Letztens kam die Meldung, dass die Staatsregierung beschlossen hat, den Kommunen die IT-Administratoren für die Schulen zumindest hälftig zu bezahlen – immerhin. Ist Bayern eine Insel der Seligen, was die Digitalisierung der Schulen betrifft?
Schwägerl: Schön wäre es. Es ist ja eine alte Forderung gewesen, Wartung und Pflege der Schul-IT auf vernünftige Beine zu stellen. Wir sind froh, dass das jetzt endlich der Fall ist. Ich bin ja selbst Systemadministrator gewesen, viele Jahre lang in meiner Schule und ich kenne den langen Kampf um Unterstützung. Das betraf Lehrkräfte, die mit wenig Freistellungen die Schulen digital entwickelt haben. Jetzt zeichnet sich ein Weg ab. Ich hoffe, dass das dann auch läuft. Seit Corona, das muss man schon anerkennen, haben wir eine sehr reichhaltige Ausstattung. Es ist enorm viel angeschafft worden, deswegen ist auch dieser Wartungsbereich so wichtig geworden. Die Geräte sollen ja einsatzbereit sein. Aber jetzt kommt der entscheidende Faktor: Für den Einsatz, den vernünftigen Einsatz – wir waren gerade bei Diagnose-Tools, die eben auch Vorbereitungszeit brauchen – benötigen Lehrkräfte auch die Freiräume und die Zeit und natürlich auch entsprechende Fortbildungen. Ich denke, da ist noch einiges zu tun, um die Digitalisierung der Schulen in der Fläche tatsächlich gut umzusetzen.
News4teachers: Um die Schulen wird bundesweit eine hitzige Datenschutzdebatte geführt. In Ihrem Nachbarland Baden-Württemberg kocht das Thema extrem hoch, gekämpft wird mit harten Bandagen. Verhindert überzogener Datenschutz, dass Schulen sich vernünftig digitalisieren können?
Schwägerl: Wir stecken da tatsächlich in einem Dilemma. Konkret ist der Einsatz von Teams oder überhaupt das ganze Office-Paket von Microsoft in der Debatte. Auch der Philologenverband von Baden-Württemberg hat sich dabei sehr stark positioniert. Wir in Bayern sehen das etwas differenzierter. Wenn ich in die beruflichen Schulen, zu denen ich sehr gute Kontakte habe, hineinschaue, die sagen ganz klar, wenn wir das Office-Paket von Microsoft jetzt verbannen würden, komplett, hätten wir ein Riesenproblem mit unseren Abnehmern, den mittelständischen Unternehmen, die natürlich alle damit arbeiten. Die Vorbereitung auf die Berufswelt wäre in der Form praktisch dann nicht mehr möglich. Die Frage ist, ob die Bayerncloud Schule, die ja zukünftig ähnliche Funktionalitäten wie Office anbieten will, dann tatsächlich einen guten brauchbaren Ersatz darstellt. Vom Datenschutz her mit Sicherheit. Inwieweit das von der Praktikabilität und Einsetzbarkeit genügt, das bleibt abzuwarten.
News4teachers: Mal grundsätzlich gefragt – mit Blick auch auf die schlechten Erfahrungen mit Schulplattformen in anderen Bundesländern: Ist der Staat als IT-Entwickler nicht überfordert? Eine Landespolizei kommt ja auch nicht auf die Idee, Polizeiautos selber zu entwickeln, sondern benennt ihren Bedarf – und bestellt dann entsprechend bei Autokonzernen.
Schwägerl: Es ist ja nicht so, dass der Staat die IT entwickelt, sondern das ist wird ja im Rahmen einer Ausschreibung an Firmen vergeben, die dann das Ganze nach entsprechenden Standards aufsetzen. Ich denke mal, die Mischung macht es hier an dieser Stelle. Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.
