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Wenn es am Lesen und Schreiben krankt: Englisch an der Grundschule streichen? Philologen machen Druck

MÜNCHEN. Das Fach Englisch wird seit dem Schuljahr 2005/2006 in 15 Bundesländern  an allen Grundschulen unterrichtet (im Saarland und in Grenzregionen von Baden-Württemberg sowie Rheinland-Pfalz steht Französisch auf dem Stundenplan). Spätestens seit dem Iglu-Schock, der Viertklässlern in Deutschland ein sinkendes Leistungsniveau im Lesen und Schreiben attestiert, kocht die Debatte darüber hoch, ob die Stunden nicht besser für mehr Deutschunterricht nutzen genutzt werden. Aktuell in Bayern.

Lernen – oder nicht lernen? Das ist hier die Frage. (Symbolfoto) Foto: Shuttertock

Lieber Personalpronomen und Präpositionen im Deutschunterricht büffeln als in der Englischstunde Singspiele machen? Ein Viertel aller Kinder kann am Ende der Grundschulzeit nicht gut genug lesen, hat kürzlich eine die Iglu-Studie ergeben (News4teachers berichtete). Da klingen Forderungen, den Englischunterricht in der Grundschule zugunsten von mehr Deutschstunden zu streichen, zunächst nachvollziehbar. Doch Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) steht entschieden zum Fach Englisch für alle Dritt- und Viertklässler – und weiß dabei die Wissenschaft hinter sich.

Dabei fragen sich auch manche Eltern, ob die neue Sprache die Acht- bis Zehnjährigen nicht eher verwirrt – noch dazu, wenn die Lehrkraft Englisch nicht explizit als Fach studiert hat. Doch trotz aller Mängel im System betonen Experten für Spracherwerb seit langem die Vorzüge des frühen Fremdsprachenunterrichts – gerade auch für Kinder mit Migrationshintergrund.

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«Man kommt in der Grundschule nicht sehr weit, das ist ja kein konsequenter Unterricht mit einer bestimmten Anzahl von Wörtern, Grammatik und so weiter»

Der bayerische Philologenverband bläst allerdings aktuell in das andere Horn. Die Vertretung der Gymnasiallehrkräfte hat unter ihren Mitgliedern gefragt, wie diese den Leistungsstand der Fünftklässler in Deutsch, Englisch und Mathe nach dem Übertritt bewerten – und stieß nach den Ergebnissen, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegen, auf große Unzufriedenheit. 82 Prozent der 279 befragten Englischlehrkräfte, die heuer in den Klassen fünf und sechs unterrichtet haben, plädierten sogar dafür, in den Grundschulen auf Englisch als Pflichtfach zu verzichten und stattdessen Deutsch und Mathe zu stärken.

«Man kommt in der Grundschule nicht sehr weit, das ist ja kein konsequenter Unterricht mit einer bestimmten Anzahl von Wörtern, Grammatik und so weiter», erläutert Philologenverbandschef Michael Schwägerl. Diese Argumentation bringt Heiner Böttger in Wallung. «Das zeigt, die Verantwortlichen des Verbandes haben gar keine Ahnung, was in den Curricula der Grundschule steht, nämlich Hörverstehen, elementares Sprechen und interkulturelles Lernen», zählt der Professor für Englischdidaktik von der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt auf.

Gerade letzteres halte er für wertvoll: «Das ist das erste bewusste Feststellen der Kinder, da gibt es Menschen, die sind anders als ich, die sprechen eine andere Sprache, haben andere Bräuche. Solche Kinder lernen, nicht zu vorverurteilen, sondern das Anderssein erstmal zu akzeptieren. Dann erst kann man das Anderssein auch wertschätzen und sieht die eigene Kultur nicht als Nummer eins.» Die absolute Mehrzahl der Studien zeige zudem viele weitere Vorteile des frühen Fremdsprachenunterrichts – etwa positive Auswirkungen auf die Fähigkeiten in Mathematik, betont Böttger.

«Die alten Rezepte von vor 20, 30 Jahren, was die Grundschule und die Voraussetzungen der Kinder in der Grundschule anbelangt, muss man überdenken», findet hingegen Schwägerl. Natürlich habe der spielerische Fremdsprachenerwerb auch seine Vorteile. «Doch die Frage ist, ob der Fokus mit der veränderten Zusammensetzung in den Kitas und Grundschulen – Deutsch ist für viele schon die zweite Sprache – nicht verstärkt auf die Landessprache gelegt werden muss, weil das die Grundvoraussetzung für die weiterführenden Schulen und die Teilhabe insgesamt ist.»

«Zu glauben, Kinder mit Migrationshintergrund könnten alles über eine neue Muttersprache Deutsch erschließen, ist eine Milchmädchenrechnung»

«Dieses Summenspiel aufzumachen ist eine völlig uninformierte Forderung», findet Böttger und argumentiert: Für Kinder, die kein Deutsch könnten, sei der Englischunterricht die große Chance, auf Augenhöhe zu kommunizieren und zudem über das Englische Zugang zum Deutschen zu finden. Außerdem: «Zu glauben, Kinder mit Migrationshintergrund könnten alles über eine neue Muttersprache Deutsch erschließen, ist eine Milchmädchenrechnung.» Stattdessen helfe es ihnen, Englisch als lingua franca, als Transfersprache, zu nutzen, zitiert der Experte für frühen Fremdsprachenerwerb Studien.

Die Fächer dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden, findet auch Kultusminister Piazolo. «Für Sechs- bis Zehnjährige sind Bewegung, Singen, Musizieren und kreatives Schaffen genauso wichtig wie das tägliche Lesetraining oder die Beherrschung der Grundrechenarten.» Zwei- und mehrsprachige Kinder und Jugendliche hätten erwiesenermaßen Vorteile bei der Konzentrationsfähigkeit, dem offenen und experimentierfreudigen Denken und der sprachlichen Kreativität. «Man kann also nicht früh genug mit dem Erlernen einer Fremdsprache anfangen.»

Simone Fleischmann vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband, der auch Grundschullehrkräfte vertritt, liegt noch ein anderer Punkt am Herzen. Natürlich sei Sprachkompetenz im Deutschen gerade für Migrationskinder immens wichtig. Aber: «Grundschule ist mehr als nur Lesen, Rechnen, Schreiben!» Die Kinder müssten ganzheitlich gebildet werden, um als selbstbewusste Menschen mit ihren Stärken und Schwächen an den weiterführenden Schulen bestehen zu können. Und dazu gehöre in einer globalisierten Welt neben Musik, Kunst und Sport eben auch Englisch. Da könne man nicht einfach streichen, sondern müsse stattdessen den Lehrkräftemangel beheben, um gute Lernergebnisse zu erzielen. Böttger betont: «Wir brauchen einfach mehr Zeit für individuelle Förderung und individuelle Alphabetisierung.» News4teachers / mit Material der dpa

Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers heiß diskutiert. 

Debatte um Iglu-Studie – Philologen fordern: Englisch in der Grundschule streichen!

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