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IQB-Bildungsstudie: Abwärtstrend verstetigt sich – “und am Ende wird den Lehrkräften vor Ort die Schuld gegeben”

BERLIN. Die Lehrerverbände zeigen sich angesichts einer erneut desaströs ausgefallenen Vergleichsstudie von Schülerleistungen – diesmal dem IQB-Bildungstrend – besorgt. Sie konstatieren einen „Abwärtstrend“, dem die Politik zu wenig entgegensetze. „Und am Ende wird den Lehrkräften vor Ort die Schuld gegeben“, stellt der VBE verbittert fest.

„Die Lehrkraft vor Ort ist es, welche durch ihr Engagement unter den widrigen Umständen von Lehrkräftemangel, fehlenden Ressourcen und Pandemiebedingungen noch die bestmöglichen Lernerfolge gefördert hat.” (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Bei den aktuell im IQB-Bildungstrend untersuchten Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler der 9. Jahrgangsstufe im Fach Deutsch zeigte sich, dass 15 Prozent von ihnen die Mindeststandards im Lesen für den „Ersten Schulabschluss“ (ESA) verfehlen, für den „Mittleren Schulabschluss“ (MSA) sogar 33 Prozent. Noch etwas schlechter sieht es bei den Kompetenzen Zuhören (18 Prozent ESA bzw. 34 Prozent MSA verfehlen den Mindeststandard), etwas „besser“ im Bereich Orthografie (8 Prozent ESA bzw. 22 Prozent MSA verfehlen ihn) aus. Damit setzt sich der bereits bei den vergangenen Untersuchungen festgestellte Abwärtstrend im Fach Deutsch aus dem Jahr 2015 fort (News4teachers berichtete).

 „Das ist kein Unfall, sondern ein Fehler im System“, erklärt die GEW dazu. Um den Abwärtstrend der Schülerleistungen zu stoppen, schlägt die Bildungsgewerkschaft höhere Finanz- und Personalressourcen, aber auch eine Abkehr von der frühen Aufteilung der Schülerinnen und Schüler in unterschiedliche Schulformen vor. „Die Leistungsergebnisse und die immer weiter auseinanderklaffende soziale Schere in der Sekundarstufe I der Schulen sind ernüchternd und besorgniserregend“, sagt Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied Schule.

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„Das Bildungssystem in Deutschland ist seit Jahrzehnten deutlich unterfinanziert. In allen Bildungsbereichen, herrscht ein riesiger Fachkräftemangel“

„Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat – als Reaktion auf die erste PISA-Studie in 2001 – zu sehr auf das Thema Qualitätsentwicklung und Standardisierung fokussiert. Sie hat zu wenig auf andere – nach PISA von der KMK beschlossene – Handlungsfelder wie Leseförderung und Ganztagsschulentwicklung gesetzt“, meint die GEW-Schulexpertin. „Wir brauchen eine durchgängige Lese- und Sprachförderung, die weder nach der Grundschule noch vor dem Schultor aufhört. Und wir brauchen Mindeststandards, die ein Recht auf Bildung für alle begründen und nicht Hürden darstellen, an denen Kinder scheitern“, unterstreicht Bensinger-Stolze.

„Das Bildungssystem in Deutschland ist seit Jahrzehnten deutlich unterfinanziert. In allen Bildungsbereichen, insbesondere in Kitas und den Schulen, herrscht ein riesiger Fachkräftemangel“, sagt das GEW-Vorstandsmitglied. Eine bedarfsgerechte Personalausstattung oder eine bessere Unterstützung der Schulen in sozial schwierigen Lagen seien nur mit höheren staatlichen Bildungsausgaben zu erreichen. Das „Startchancenprogramm“ der Bundesregierung werde dafür nicht ausreichen. Dass reichere Bundesländer teilweise bessere Leistungsergebnisse in Deutsch verzeichnen als ärmere, mache zudem die soziale Spaltung in Deutschland deutlich. Die GEW mache sich daher erneut für ein 100-Milliarden-Euro-Programm für Investitionen in die Bildung sowie eine sozial gerechtere Verteilung der Bundesmittel an die Länder stark.

Bensinger-Stolze weist zudem „allzu einfache Erklärungen“ der Kultusministerinnen und Kultusminister für die Schulmisere zurück. Die Corona-Pandemie habe zwar ihre Spuren hinterlassen und die soziale Spaltung vergrößert. Auch stelle die hohe Zahl geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus der Ukraine die Schulen teilweise vor große Herausforderungen. Beides tauge aber nur teilweise als Begründung für die nachlassenden Leistungen der Schülerinnen und Schüler. „Anstatt die Alarmglocken immer neu zu läuten und das ‚Scheitern‘ der Kinder und Jugendlichen zu beklagen, müssen wir endlich die Fehler im System analysieren“, betont die Schulexpertin. „Erstens wird der ‚Output‘ nicht besser, wenn der ‚Input‘ nicht stimmt. Und zweitens verbessern sich Schülerleistungen nicht in der Breite, wenn wir weiterhin so früh selektieren und es zulassen, dass sich die Probleme in bestimmten Schulen konzentrieren.“ Dass sich die Abhängigkeit der Leistungen vom sozioökonomischen Hintergrund der Familien sogar noch verschärft habe, bezeichnet das GEW-Vorstandsmitglied als „Skandal“.

„Dass insbesondere die Ergebnisse für Deutsch an Deutschlands Schulen so schlecht sind, ist ein Armutszeugnis für die Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Hier verstetigen sich Abwärtstrends“, meint auch Susanne Lin-Klitzing, Bundesvorsitzende des Philologenverbands. Sie nimmt die Schülerinnen und Schüler in den Blick. Deren Interesse am Deutschunterricht sei bei fast allen niedriger als am Englischunterricht.

Und weiter: „Eine weitere Ursache für den Abwärtstrend dürfte gemäß dem Fazit des IQB-Bildungstrends beim gestiegenen Anteil der im Ausland geborenen und zugewanderten Jugendlichen der sog. ‚ersten Generation‘ daran liegen, dass sie während der Corona-Pandemie zuhause zu wenig Deutsch gesprochen haben. Auch hier zeigt sich, dass Unterschiede im Sprach- und Bildungshintergrund im Zusammenhang mit schulischen Leistungen durch die Schule allein nicht aufgelöst werden können.“

„Gute Fähigkeiten im Fach Deutsch, im Lesen, Schreiben und Zuhören sind die Basis für Leistungsfähigkeit, für Zusammenhalt und für Demokratiebildung“

Bestimmte Probleme seien hingegen hausgemacht: „überlastete und zu wenig Lehrkräfte, viele fachfremd unterrichtende Lehrkräfte, schlechte Ausstattung der Schulen, zu wenige Unterrichtsstunden Deutsch, zu wenige Ressourcen für Integration – all das mahnen wir seit Langem an“, so Lin-Klitzing weiter. „Gleichzeitig zeigt sich aber auch in dieser Untersuchung wieder, dass die Lehrkräfte ihr Bestes geben, ihren Beruf immer noch und immer wieder gerne und mit hoher Anstrengungsbereitschaft ausüben, was die Schülerinnen und Schüler spiegeln: Sie geben auch in diesem Bildungstrend 2022 für ihre Schule hohe Zufriedenheitswerte an und fühlen sich dort gut integriert.“

Dass das gegliederte Schulsystem ursächlich für die Leistungsspreizung sei, kann die Philologen-Vorsitzende – anders als die GEW – nicht erkennen. Im Gegenteil: Schülerinnen und Schüler in Bayern und Sachsen zeigten im gegenwärtigen gemessenen Abwärtstrend in ihren differenzierten Schulsystemen und ihren hohen Leistungsanforderungen für die untersuchten Deutschkompetenzen die jeweils besten Ergebnisse gegenüber allen anderen Bundesländern sowohl im Lesen als auch im Zuhören als auch in der Orthografie. Das Gegenteil gelte für Bremen und Berlin. Lin-Klitzing: „Gute Fähigkeiten im Fach Deutsch, im Lesen, Schreiben und Zuhören sind die Basis für Leistungsfähigkeit, für Zusammenhalt und für Demokratiebildung. Unser Appell an die Politik: Stoppen Sie diesen Abwärtstrend, stärken Sie die Lehrkräfte und ihre Schülerinnen und Schüler!“

Der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand, sieht in dem Ergebnis des IQB-Bildungstrends „ein gefundenes Fressen für all jene, die unzufrieden mit dem Bildungssystem sind.“  Und am Ende werde den Lehrkräften vor Ort die Schuld an den schlechten Ergebnissen gegeben.

Brandt: „Doch die Lehrkraft vor Ort ist es, welche durch ihr Engagement unter den widrigen Umständen von Lehrkräftemangel, fehlenden Ressourcen und Pandemiebedingungen noch die bestmöglichen Lernerfolge gefördert hat. Das lässt aber tief blicken auf den Zustand des Systems. Wir haben strukturelle Probleme, die nur auf politischer Ebene gelöst werden können. Die Beteiligten der Kultusministerkonferenz sprechen von ‚besorgniserregenden‘ und ‚nicht zufriedenstellenden‘ Ergebnissen. Sie haben als Verantwortliche nun jede Möglichkeit, ihre Sorgen in Taten münden zu lassen. Es braucht Ressourcen für das Bildungssystem, sowohl personell als auch materiell, um sicherzustellen, dass die Schule bleibt, was sie sein soll: Ein Ort des Lehrens und Lernens, der Bildung und der Erziehung.“ News4teachers

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