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Zurück zu G9: Jeder vierte Schüler kann kaum lesen – jetzt fließt viel Geld in die Gymnasien. Wie sinnvoll ist das?

STUTTGART. Jahrelang war über die Dauer des Gymnasiums in Baden-Württemberg gestritten worden, das als letztes Flächenland im Westen an G8 festhielt. Nun ist klar: Das Land will/muss jetzt doch zurück zum G9. „Moderner“ soll es werden als das alte, mehr Klarheit gibt es zunächst nicht. Unumgänglich ist allerdings, dass die Umstellung eine Menge von Ressourcen binden wird – Mittel, die an anderer Stelle im Bildungssystem womöglich sinnvoller eingesetzt wären.

Was bleibt noch für sozial schwache Schülerinnen und Schüler übrig, wenn das Gymnasium sich nach vorne drängt? Foto: Shutterstock

Was da am Dienstagmorgen von der Pressestelle der Landesregierung per Mail an die Journalisten verschickt wird, kommt unscheinbar daher, ist aber nichts anderes als eine Kehrtwende. Eine Kehrtwende in der Frage, wie lange das Gymnasium in Baden-Württemberg dauern soll. Keine 24 Stunden nachdem das Bürgerforum zur Zukunft des Gymnasiums im Medienzentrum des Landtags die Ergebnisse seiner Beratungen vorgestellt und Grün-Schwarz die Rückkehr zu einer modernen Form des neunjährigen Gymnasiums empfohlen hatte, gibt Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) seinen Widerstand gegen eine Rückkehr zu G9 auf.

Man wolle ein neues Modell für ein neunjähriges Gymnasium erarbeiten, heißt es in einem knappen, einseitigen Papier, auf das sich die Spitzen der Koalition am Morgen verständigt haben. Die Landesregierung sei offen für ein neues G9 und starte einen Prozess zur Erarbeitung eines solchen neuen G8/G9-Modells. «Wir werden jetzt keine Schnellschüsse machen oder einfach zum G9 der 1990er-Jahre zurückkehren. Wir werden eine Lösung erarbeiten, die den Anforderungen unserer Zeit gerecht wird und die Empfehlungen des Bürgerforums aufgreift», wird Kretschmann zitiert.

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«Wir müssen jetzt erstmal den Aufschlag aufnehmen. Das wird gehörig Zeit und auch Kraft beanspruchen»

Arg viel genauer wird der Ministerpräsident, der sich immer für eine Beibehaltung von G8 stark gemacht hatte, dann aber im weiteren Verlauf des Tages nicht mehr. Bei der wöchentlichen Pressekonferenz im Landtag bleibt er vage, liest stellenweise die Pressemitteilung vom Morgen wörtlich vor und sagt nur, man gehe in die Richtung eines neuen G9. Bis wann dieses eingeführt werden soll, bleibt offen. Ebenso wie die Fragen, ob es Schülerinnen und Schülern flächendeckend neun Jahre bis zum Abitur ermöglichen soll oder was die Umstellung für andere Schulformen bedeuten würde.

«Wir müssen jetzt erstmal den Aufschlag aufnehmen. Das wird gehörig Zeit und auch Kraft beanspruchen», sagt Kretschmann. Bis Januar soll das Kultusministerium erste Vorschläge zum Verfahren vorlegen. Hoffnung auf ein schnelles, flächendeckendes G9 macht er keine: Er könne sich nur ganz schwer vorstellen, dass die Umstellung auf ein neunjähriges Gymnasium bereits für das kommende Schuljahr möglich wäre, sagt er.

Dabei drängt die Zeit. Der Landtag muss sich im kommenden Jahr mit einem äußert erfolgreichen Volksantrag einer Elterninitiative befassen, die auf diesem Weg die Rückkehr zu G9 erzwingen will. Lehnt das Parlament den Entwurf der Eltern ab, können die ein Volksbegehren starten, so dass am Ende die Bevölkerung über die Dauer des Gymnasiums entscheiden könnte.

Die Opposition kann das nicht nachvollziehen. «Keinem Menschen kann erklärt werden, wieso der Ministerpräsident Winfried Kretschmann immer noch verzögert und die Sache auf die lange Bank zu schieben gedenkt», sagt etwa der bildungspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Timm Kern. Die Umsetzung sei herausfordernd, andere Bundesländer hätten sie aber längst gemeistert. SPD-Fraktionschef Andreas Stoch sagt: «Die Abwehrreflexe des Ministerpräsidenten sind fehl am Platz.»

Die Entscheidung, die Türe für ein «neues G9» zu öffnen, dürfte der Landesregierung und vor allem Kretschmann und seinen Grünen nicht leicht gefallen sein. Die eigentlichen Herausforderungen im Bildungssystem lägen in den Kindergärten und Grundschulen, betonen sie seit Wochen. Und auch am Dienstag macht Kretschmann klar: «Diese Koalition konzentriert sich auf die Grundschule und die frühkindliche Bildung in den Kitas.» Darüber herrsche Konsens. «Das gilt im übrigen auch für die Ressourcen.» Man wolle bald ein Maßnahmen-Paket für den Zeitraum vor der Einschulung und in der Grundschule vorlegen.

Nötig «wären Reformen, die zu mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit beitragen und die Bildung vom Kopf auf die Füße stellen»

Der VBE stößt in das gleiche Horn. «Wir empfehlen der Landesregierung dringend, das zu tun, was sie schon lange sagt: Nämlich die Sprachförderung an Kitas und Schulen auszubauen. Dazu bräuchte es zunächst mehr Stunden im Bereich der Grundschule zur Förderung von Kindern mit Sprach- und Lesedefiziten», sagt der Landes- und Bundesvorsitzende Gerhard Brand. «Gleich den anderen Schularten sollte die Grundschule endlich mit Pool- und Differenzierungsstunden ausgestattet werden, um gezielt mit den Kindern arbeiten zu können. Sinnvoll wäre es außerdem, die Sprachförderung in den Kitas auszubauen und ein gebührenfreies letztes Kita-Jahr zu ermöglichen. Dies wären Reformen, die zu mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit beitragen und die Bildung vom Kopf auf die Füße stellen.»

Tatsächlich machen Schülerleistungsvergleiche seit Jahren deutlich, dass es bei immer mehr Kindern und Jugendlichen an der Grundbildung hapert. Die Pisa-Studie hatte in der vergangenen Woche ergeben, dass 25 bzw. 30 Prozent der 15-Jährigen an den Mindeststandarts in Lesen und Mathematik scheitern. Investitionen ins Gymnasium werden kaum helfen, diese zunehmenden Defizite in den Griff zu bekommen. Die Rückkehr zu G9 ist eine tiefgreifende Strukturreform, die auch «hochgradig finanzrelevant» wäre, so argumentierte Kretschmann noch vor drei Wochen. In Nordrhein-Westfalen hatte das Land den Kommunen eine halbe Milliarde Euro allein für die notwendigen Um- und Ausbaumaßnahmen an Schulgebäuden überweisen müssen.

Nachdem nun auch das Bürgerforum eine Verlängerung des Gymnasiums auf neun Jahre empfohlen hat, ließ sich der Widerstand gegen G9 aber wohl nicht mehr aufrechterhalten. Oder wie es Kretschmann formuliert: «Verantwortliche Politik redet den Menschen nicht einfach nach dem Mund. Aber verantwortliche Politik hört auch den Menschen genau zu. Und natürlich kann man wichtige politische Fragen nicht gegen den Willen einer großen Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen.»

Schon gar nicht, wenn es sich dabei um die Interessen einer wahlentscheidenden Klientel handelt – die der Gymnasialeltern eben. News4teachers / mit Material der dpa

Drängender denn je: Warum wir mehr Chancengerechtigkeit im Schulsystem brauchen – eine Gegenrede

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