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Bildungsabsteiger Baden-Württemberg: Wie bekommen Politiker die Schülerleistungen wieder nach oben?

STUTTGART. Baden-Württemberg hat in den Schülerleistungsstudien der vergangenen Jahre den größten Abstieg aller Bundesländer zu verkraften. Auch wenn die öffentliche Debatte zuletzt vor allem um das Gymnasium kreiste – es gibt noch weitere Baustellen bei der Bildung im Ländle. Wo liegen die und was raten Experten?

Wer rettet? Foto: Shutterstock

Eigentlich, so hatte es Grün-Schwarz im Koalitionsvertrag vereinbart, sollte die Bildungsstruktur in Baden-Württemberg in dieser Legislatur nicht verändert werden. Weil aber eine Elterninitiative mehr als 100.000 Unterschriften für eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium sammelte und auch ein Bürgerforum G9 empfahl, musste Ministerpräsident Winfried Kretschmann, selbst erklärter G9-Gegner, Mitte Dezember die Richtungsänderung verkünden. Und die Frage zur Zukunft des Gymnasiums ist nicht die einzige Baustelle in der Bildungspolitik. Ein Überblick über die meist diskutierten Themen:

Zurück zum neunjährigen Gymnasium? Durch den Volksantrag und das Bürgerforum muss sich die Landesregierung nun plötzlich mit der Frage beschäftigen, wie das Gymnasium hierzulande künftig aussehen soll. Die Initiatorinnen drücken aufs Tempo. «Leider muss befürchtet werden, dass die Landesregierung hier auf Verwässerung und Verzögerung setzt, indem sie Arbeitskreise gründet», kritisieren sie. Ein Sprecher von Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) betont, eine Reform müsse sorgfältig durchdacht und vorbereitet werden. Man sei derzeit in Gesprächen mit Bildungswissenschaftlern und ausgewählten Praktikern, wie ein modernisiertes G9 aussehen könnte.

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Wissenschaftler haben dagegen Zweifel, ob ein modernisiertes G9 die richtige Lösung ist. «Der Stress im G8 ist definitiv zu groß und da muss man was dagegen tun», sagt Bildungsforscher Thorsten Bohl, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen und Leiter der Tübingen School of Education. Er könne auch gut verstehen, dass mehr Schülerpartizipation, neue Unterrichtsmethoden und mehr Praxis gefordert werde. «Wenn man das aber empfiehlt, dann geht man aus dem Profil des Gymnasiums raus. Das Gymnasium ist eine wissenschaftspropädeutische Schulart, soll also auf das Studium vorbereiten», sagt Bohl.

Sinnvoller als eine Verlängerung der Schulzeit fände der Bildungsforscher eine Überarbeitung der Lehrpläne – etwa mit einer früheren Profilbildung. Dann könnten die Schülerinnen und Schüler am Anfang eine gewisse Allgemeinbildung bekommen. «Und danach gibt es dann klare Profile, sodass wir Schülerinnen und Schüler haben, die eben Experten und Expertinnen für eine bestimmte Anzahl von Fächer sind und nicht für alle wie bisher», sagt Bohl.

Zu viele verschiedene Schularten? Für problematisch hält Bohl die Rückkehr zu G9 auch wegen großer Auswirkungen auf andere Schularten. Das Gymnasium nehme schon heute einen guten Teil der Kinder und Jugendlichen mit einer mittleren Bildungsempfehlung auf. Mit G9 werde sich dieser Trend noch verstärken, so Bohl. «Dann haben wir die Situation, dass neben G9 eine «Restschule» bleiben wird, die große Schwierigkeiten haben wird, einen guten Umgang mit Heterogenität zu pflegen, da die Heterogenität nicht ausbalanciert ist», sagt der Bildungsforscher.

So habe etwa die Gemeinschaftsschule, die auf Heterogenität ausgerichtet sei, schon heute zu wenig leistungsstarke Schülerinnen und Schüler. Die Forschung zeige, dass es für einen guten Umgang 20 bis 30 Prozent leistungsstärkere Schüler brauche. Zum Schuljahr 2022/2023 hatten aber laut Statistischem Landesamt nur gut 13 Prozent der neuen Fünftklässler an den Gemeinschaftsschulen im Land eine Gymnasialempfehlung. Unter Druck, so heißt es aus dem Kultusministerium, kämen auch berufliche Gymnasien, wo heute jedes dritte Abitur absolviert werde.

«Das Schulsystem ist sehr zerklüftet, das ist ein Chaos geworden», sagt Bildungsforscher Thorsten Bohl. Wie eine Alternative aussehen könne, sehe man in Hamburg. Dort gibt es an den Gymnasien weiterhin G8. «Und neben G8 stellt man eine zweite, integrierte Schulart. Das Kernprofil dieser Schulart ist ein professioneller Umgang mit Heterogenität», sagt Bohl. Auf der Schule könnten die Schülerinnen und Schüler dann nach dem mittleren Bildungsabschluss entscheiden, eine Berufsausbildung zu starten oder das Abitur nach neun Jahren zu machen.

Wie umgehen mit den großen Problemen am Anfang? Die größte Baustelle sieht die Landesregierung aber nicht im Gymnasium. «Ganz oben steht die Verbesserung der Startbedingungen zu Beginn der schulischen Laufbahn», sagt der Sprecher des Kultusministeriums. Die Leistungen von Grundschülern sind in den vergangenen Jahren erschreckend eingebrochen. Eine Studie belegte etwa im Jahr 2022 schlechte Testergebnisse bei Viertklässlern in Mathe und Deutsch: Fast jedes fünfte Kind schaffte die Mindeststandards in den zwei Fächern nicht. Als Schlüssel zur Lösung der Probleme sieht die Landesregierung die Sprachförderung. Ein Konzept sei inhaltlich fertig, heißt es aus dem Kultusministerium. Nun werde mit dem Finanzministerium verhandelt.

Für Bildungsforscher Bohl ist das der richtige Weg. Wenn ein Teil der Schüler nicht mehr ein Basisniveau beim Lesen, Schreiben und Rechnen erreichten, sei das ein Problem. «Diese Schüler werden extrem große Probleme haben, in der Gesellschaft zu bestehen und überhaupt sinnvoll im Arbeitsmarkt unterzukommen», sagt Bohl.

Für die Opposition und die Initiatorinnen des G9-Volksantrags ist das kein Widerspruch. Man dürfe die Rückkehr zu G9 nicht gegen eine Stärkung der frühkindlichen Bildung ausspielen, kritisierte SPD-Fraktionschef Andreas Stoch. «Dieses Land, eines der reichsten Länder der Welt, muss in der Lage sein, beides zu tun.» Das sollte dem Land seine Zukunftsfähigkeit und sein Wohlstand wert sein, finden auch die Initiatorinnen des Volksantrags.

Und jetzt ein Schulfrieden? Die Lage ist also verzwickt. Regierung und Opposition sind bei den wichtigen Fragen alles andere als einer Meinung, die Konzepte liegen teils weit auseinander. Größere Reformen müssten einen breiten Rückhalt haben, damit nach der nächsten Landtagswahl nicht wieder ein schneller Richtungswechsel stattfindet. Opposition und Regierung wollen deswegen über eine Bildungsallianz sprechen. «Wir erhoffen uns eine offene, kritische Diskussion darüber, wie wir unsere Schullandschaft im Sinne der Kinder qualitativ und auch in Bezug auf die verfügbaren Ressourcen weiterentwickeln und stärken können», sagt Schoppers Sprecher. Ob das gelingt ist fraglich. 2014 gab es zuletzt einen Anlauf für einen Schulfrieden – ohne Erfolg. Von David Nau, dpa

Der Absteiger! Kein anderes Bundesland hat sich im Bildungsmonitor so verschlechtert wie Baden-Württemberg – warum?

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