BERLIN. Kultusministerien in Deutschland registrieren eine drastische Zunahme von Meldungen über extremistische – vor allem wohl: rechtsextreme – Vorfälle an Schulen. Dass die Mehrzahl der Bundesländer aber offenbar solche Daten nicht sammelt, irritiert.
Eine Schülerin postet auf Tiktok ein Video mit lustigen Schlümpfen – und wird deswegen von Polizisten aus dem Unterricht geholt: Die Geschichte aus der 15.000-Einwohner-Stadt Ribnitz-Damgarten in Mecklenburg-Vorpommern sorgte deutschlandweit für Empörung, die von der AfD (und der CDU) eifrig geschürt wurde. Doch die Erzählung erwies sich als falsch. Tatsächlich, das stellte die Polizei später klar, ging es keineswegs um ein harmloses «Schlumpf-Video». Die blauen Zeichentrick-Zwerge tauchten in dem Material zwar auch auf. Darüber hinaus aber war von Schriftzügen die Rede, «die dem rechtsextremistischen Spektrum zuzuordnen sind, sowie Runenzeichen und altdeutsche Schrift mit Lorbeerkranz» sowie eine Parole der Neonazi-Partei «Der III. Weg».
Mecklenburg-Vorpommerns Bildungsministerin Simone Oldenburg (Linke) und Innenminister Christian Pegel (SPD) verteidigten das Vorgehen des Schulleiters, der die Polizei eingeschaltet hatte, und das der Beamten, die das Mädchen aus dem Unterricht holen ließen und mit ihm im Schulleiterzimmer ein Gespräch führten. Sie hätten richtig und angemessen gehandelt, erklärten beide Minister. Bildungsstaatssekretär Tom Scheidung (Linke) verwies darauf, dass die Schulleitungen gehalten seien, die Polizei einzuschalten, wenn bei Besitz, Erstellung und/oder Verbreitung von Textnachrichten, Fotos oder Videos ein strafrechtlicher Hintergrund nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden könne.
Seit dem Vorfall wird darüber diskutiert, ob extremistische Vorfälle an Deutschlands Schulen Einzelfälle oder an der Tagesordnung sind – und wie Lehrer damit umgehen sollten. Tatsächlich verzeichnen nach einem Bericht der «Welt» alle sechs Bundesländer, in denen extremistische Straftaten an Schulen erfasst werden und diese öffentlich mitteilten, einen Anstieg. Die meisten Vorfälle wurden in Brandenburg gemeldet, eine Verdreifachung auf 180 Taten im Vergleich zum vergangenen Schuljahr.
Es folgt Sachsen, wo es im vergangenen Kalenderjahr 150 Fälle waren und im vorausgegangenen Jahr 90. Berichtet wurde dort laut «Welt» von Acht- und Neuntklässlern, die im Unterricht den verbotenen Hitlergruß zeigen und Mitschüler als «Kanaken» oder «Schwarze Sau» beleidigen, von Arbeitsheften mit «Sieg Heil»-Schriftzügen oder Bemerkungen wie «Verbrenn’ die Juden» oder von einem Internet-Video, in dem Schüler eine Lehrerin als «Neggafotze» bezeichneten.
«Wir müssen mit aller Macht verhindern, dass sich Hassgefühle und Gewalt auch in Klassenzimmern oder auf Schulhöfen ausbreiten»
Auch in Hessen verdreifachte sich die Zahl der extremistischen Vorfälle 2023 gegenüber dem Vorjahr auf insgesamt 35. Im ersten Vierteljahr 2024 waren es bereits 39. Dem Beitrag zufolge begründet das hessische Ministerium dies mit dem vermehrten Zeigen des verbotenen Hitlergrußes – oft als Challenge in den sozialen Medien. Zudem kam es nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 zu einem Anstieg antisemitischer oder islamistischer Vorfälle. Als linksextremistisch stuften die hessischen Behörden in den vergangenen Jahren laut «Welt» allerdings nur bis zu zwei Vorfälle pro Jahr ein.
Trotzdem blieb Hessens Kultusminister im Vagen, was genau er zu bekämpfen gedenkt. «Es gibt keinerlei Spielraum, als massiv gegen jede Form von Extremismus vorzugehen», teilte Armin Schwarz (CDU) am Samstag mit. «Wir müssen mit aller Macht verhindern, dass sich Hassgefühle und Gewalt auch in Klassenzimmern oder auf Schulhöfen ausbreiten.» Es sei «bitter nötig», Antisemitismus ständig konsequent zu bekämpfen und demokratische Werte zu fördern. «Unsere Schulen haben hier einen maßgeblichen Bildungs- und Erziehungsauftrag, in dem wir sie gezielt mit umfangreichen Maßnahmen unterstützen – bis hin zu Workshops oder einer Beratungshotline für Lehrkräfte.»
Im laufenden Schuljahr häuften sich die (rechts-)extremistischen Vorfälle auch in anderen Bundesländern. So registrierte Sachsen-Anhalt bereits 22 «verfassungsfeindliche Vorfälle» bis Januar, verglichen zu 15 im vergangenen Schuljahr 2022/2023. Ähnlich ist es in Mecklenburg-Vorpommern, wo es im Vergleich zum vergangenen Schuljahr fast zu einer Verdopplung kam.
In sieben Bundesländern (Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein) wurden extremistische Vorfälle entweder nicht gemeldet oder von den Bildungsministerien nicht statistisch ausgewertet, wie die «Welt» schreibt. Hamburg, Bremen und Thüringen haben den Angaben zufolge nicht auf die Anfrage geantwortet.
«Unsere Demokratie steht aktuell unter Druck. Das zeigt sich auch an Schulen – sie sind ein Spiegelbild der Gesellschaft»
Niedersachsen meldete nach: Das Innenministerium zählte im Jahr 2022 mehr als 200 Straftaten an niedersächsischen Schulen. Insgesamt wurden 204 Taten verzeichnet. Für Niedersachsen liegen bislang keine aktuelleren Daten vor; die Herausgabe von Fallzahlen für 2023 und 2024 sei aktuell nicht möglich, erklärte das Innenministerium. Innenministerin Daniela Behrens (SPD) werde die Fallzahlen für das vergangene Jahr voraussichtlich im Mai vorstellen. «Für 2023 ist tendenziell von einem Anstieg der Fallzahlen auszugehen», hieß es. Die deutliche Mehrheit der Straftaten an Schulen war mit 131 Fällen im Jahr 2022 rechts motiviert. An links motivierten Straftaten zählten die Behörden 13 Taten. 5 Straftaten standen demzufolge im Zusammenhang mit einer ausländischen Ideologie. 55 Straftaten waren keinem Phänomenbereich zuzuordnen.
Inwiefern die gestiegenen Zahlen zu extremistischen Vorfällen auf ein verändertes Meldeverhalten der Schulen zurückgehen, ist unklar. Umfassende Studien existieren hierzu nicht. Brandenburgs Bildungsminister Steffen Freiberg (SPD) sagte gegenüber der «Welt»: «Unsere Demokratie steht aktuell unter Druck. Das zeigt sich auch an Schulen – sie sind ein Spiegelbild der Gesellschaft.» Lehrkräfte seien angehalten, «auf antidemokratische Äußerungen und Handlungen von Schülerinnen und Schülern zu reagieren und selbst Haltung zu zeigen».
Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied Schule der GEW, erklärte gegenüber der Zeitung: «Extremismus ist bei den Kolleginnen und Kollegen immer häufiger ein Thema». Was in der Gesellschaft passiere, finde auch den Weg in den Klassenraum. «Der Politikunterricht und Demokratieprojekte wie etwa der Anne-Frank-Tag müssen ausgebaut werden», so Bensinger-Stolze. «Grundgesetz und Schulgesetze geben den Lehrkräften den Auftrag, sich für die Demokratie einzusetzen. Wenn sie dies tun und sich etwa gegen Rechtsextremismus aussprechen, müssen sie sicher sein, dass die Politik sie unterstützt.»
Tatsächlich können sie das offensichtlich nicht immer. Im Brandenburgischen Burg sahen sich zwei Lehrkräfte, die in einem Brandbrief rechtsextreme Umtriebe unter Schülerinnen und Schülern öffentlich machten, nach einer Hetzkampagne gezwungen, die Schule zu verlassen. Sie kritisierten das Bildungsministerium. «Ich habe ein Schreiben vom Schulamt bekommen, in dem es mir mit einer Abmahnung droht, wenn ich weiter über schulinterne Vorgänge spreche», so hatte eine der beiden Lehrkräfte berichtet (News4teachers berichtete). News4teachers / mit Material der dpa