LEIPZIG. Ein Foto von Schülern in Auschwitz, die eine Neonazi-Geste zeigen, geht durch die Medien, Kein Einzelfall, sagt der Leipziger Rechtsextremismus-Experte Johannes Kiess im Interview mit dem MDR Sachsen. Er spricht von einem besorgniserregenden Trend, besonders in Ostdeutschland. Die extreme Rechte gewinne dort „Raum“ – auch an Schulen. Er warnt: Diese dürfen mit der Entwicklung nicht allein gelassen werden.
Vor wenigen Tagen erschien ein verstörendes Foto in den sozialen Medien; darauf zu sehen: Vier Neuntklässler einer Görlitzer Oberschule, die vor dem Tor des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau mit der White-Power-Geste posieren, einem international bekannten Symbol der extremen Rechten. Für Johannes Kiess, Soziologe und Politikwissenschaftler an der Universität Leipzig, ist gerade dieser Vorfall Ausdruck eines viel tiefer liegenden Problems.
Kiess forscht zu Rechtsextremismus, Antisemitismus und politischer Mobilisierung. Im Interview mit dem MDR Sachsen erklärt er: Die White-Power-Geste stehe für die vermeintliche Überlegenheit der „weißen Rasse“. Dass Jugendliche dieses Symbol nicht nur benutzen, sondern sich dabei filmen oder fotografieren und das Material in sozialen Netzwerken verbreiten, zeige, wie sehr rechtsextremes Gedankengut in bestimmten Regionen normalisiert sei.
„Wir beobachten […] Raumgewinne von Neonazis.“
„Wir beobachten deutschlandweit mit Fokus auf Ostdeutschland und insbesondere Sachsen Raumgewinne von Neonazis“, sagt Kiess. Diese hätten in manchen Gegenden eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit erreicht. „Es gilt vielen als normal, die AfD zu wählen, eine (in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen; Anm. d. Red.) gesichert rechtsextreme Partei.“ Diese Entwicklung erlaube es, rechtsextreme Provokationen öffentlich auszuleben – sogar an einem Ort wie Auschwitz. Das Verhalten der Jugendlichen sei dabei weniger das Hauptproblem. Viel gravierender sei, dass sie offenbar davon ausgingen, damit sozial akzeptiert zu werden: „Das wirft ein wirklich besorgniserregendes Bild zurück auf die Gesellschaft.“
Ein Einzelfall sei das nicht, betont Kies und verweist auf ähnliche Vorfälle in Gedenkstätten der Judenvernichtung. Die wiederkehrende Provokation sei dabei nicht zufällig, sondern ein kalkuliertes Vorgehen, das Nachahmer finde. Das Ziel sei klar: „Wenn wir uns die extreme Rechte als Bewegung angucken, dann geht es darum, Raumgewinne zu zementieren“, erklärt Kiess. Dort, wo bereits ein rassistisches oder ausländerfeindliches Klima herrsche, versuchten Rechtsextreme, ihre Dominanz weiter auszubauen.
Rechtsruck zeigt sich auch an den Schulen
Dieser Rechtsruck belastet auch immer wieder Schulen, nicht nur im Rahmen von Gedenkstättenbesuchen, sondern auch im Schulalltag. In Duisburg blieben Anfang April mehrere Schulen geschlossen, nachdem eine Schule anonyme Droh-E-Mails mit rechtsradikalen Äußerungen erhalten hatte (News4teachers berichtete). Im März hatte an einer Berufsorientierenden Oberschule (BOS) im brandenburgischen Spremberg ein Schüler seine Lehrerin angegriffen und dabei mutmaßlich auch rassistisch beleidigt (News4teachers berichtete). Nach Informationen des Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) gibt es an dieser Schule seit Jahren immer wieder rechtsextreme Vorfälle mit Beleidigungen, Pöbeleien und rassistischen Aktionen.
Ein Hort in Pirna erlangte vergangenes Jahr ungewollte Aufmerksamkeit, als Medien berichteten, dass Grundschulkinder Hakenkreuze aus Bausteinen und Kieseln gelegt, andere den Hitlergruß gezeigt haben sollten (News4teachers berichtete). Ein weiterer bekannter Fall ist die Oberschule in der brandenburgischen Stadt Burg, die mehrere Lehrer*innen im Verlauf einiger Monate wegen rechtsextremer Vorfälle im Schulalltag und Drohungen verlassen haben (News4teachers berichtete).
Gesellschaftlich akzeptiert
Trotz der überregionalen Dimension dieses Rechtsrucks unter Jugendlichen sieht Kiess in Sachsen einen besonderen Brennpunkt: „Natürlich ist es auch ein bundesweites Problem. Aber wir haben in Ostdeutschland und in Sachsen durchaus einen Schwerpunkt, wirklich einen Hotspot des Rechtsextremismus.“ Der gesellschaftliche Rückhalt für solche Haltungen sei hier mancherorts größer.
Dieser Rückhalt lässt sich beispielsweise aus der Zustimmung zur AfD ablesen, deren sächsischer Landesverband der Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft hat. Bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr hatten sich trotzdem 30,6 Prozent der Wähler*innen für die Partei entschieden. Und auch bei der U18-Wahl im Vorfeld der Landtagswahl war die AfD bei den jungen Menschen mit 34,5 Prozent der Stimmen als klare Siegerin hervorgegangen (News4teachers berichtete).
„Das ist insbesondere ein Problem an Schulen.“
Mit Blick auf die sächsischen Jugendliche spricht Kiess sogar von einem neuen „Neonazi-Trend“. Zwar sei die rechtsextreme Jugendkultur keine neue Erscheinung, seit rund zwei Jahren gebe es aber eine neue Dynamik – befeuert durch gezielte Mobilisierung über soziale Medien. „Das ist insbesondere ein Problem an Schulen, wo wir sehr aufpassen müssen, dass diese nicht mit dieser neonazistischen Raumnahme allein gelassen werden“, warnt Kiess. Er fordert eine starke Landespolitik, die Bildungseinrichtungen nicht nur besser ausstatte, sondern auch den Schwerpunkt auf politische Bildung und Demokratielernen lege.
Gleichzeitig sieht Kiess die Schulen auch selbst in der Verantwortung. Schulleitungen und Lehrkräfte müssten sich aktiv einbringen, Haltung zeigen und sich bei Bedarf extern Unterstützung holen. Die bloße Sanktionierung rechtsextremer Vorfälle reiche nicht aus. Kiess mahnt: Die Offenheit, mit der sich manche Jugendliche heute zum Nationalsozialismus bekennen, sei besorgniserregend. „Das haben wir davor so in diesem Ausmaß nicht gesehen.“ News4teachers / mit Material der dpa